Täglich sterben Flüchtlinge beim Versuch, nach Europa zu gelangen. Wir müssen unseren Werten gerecht werden und helfen.
Heute müssen wir zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni einen traurigen Rekord ertragen. Mehr als 100 Millionen Menschen auf dieser Welt befinden sich auf der Flucht – vor Krieg, Vertreibung, Hunger, Ungleichheit, Unterdrückung, Gewalt und Diskriminierung. Männer, Frauen und Kinder verlassen unter höchsten Gefahren ihre Heimat auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben. Der Krieg in der Ukraine zeigt einmal mehr die Not der Menschen, die fliehen müssen. Kleines Gepäck, Kinder an der Hand, Verzweiflung im Gesicht.
100 Millionen Mal passiert dies weltweit, so oder ähnlich. Als wären alle Einwohner Deutschlands, Schwedens und Griechenlands gleichzeitig auf der Flucht. Vielleicht lässt sich mit diesem Vergleich diese ungeheure Zahl besser begreifen.
Drama an den Außengrenzen: Für die EU steht der Schutz der Flüchtlinge nicht an erster Stelle
Angesichts der drohenden Hungerkrise wird sie sogar noch weiterwachsen. Gleichzeitig ist die Europäische Union nach wie vor nicht gewillt, den Schutz der Flüchtenden an erste Stelle zu stellen. Die Suche nach Lösungen für eine der größten Zukunftsfragen bleibt zäh und unbefriedigend.
Das führt zu nahezu absurden Situationen. An der polnischen Grenze zu Belarus werden ein paar Zehntausend Geflüchtete brutal zurückgewiesen. Einige von ihnen erfrieren oder sterben an Hunger, Durst und Erschöpfung oder durch Gewalt. Obwohl auch diese Menschen unter anderem aus dem Jemen, Afghanistan und Syrien vor dem Krieg fliehen, erhalten sie nicht einmal die Möglichkeit, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Ein Menschenrecht, das auch in der Charta der Europäischen Union festgeschrieben ist.
Polnische Regierung zeigt, dass es auch anders geht
An der gleichen Grenze weiter südlich zeigt die polnische Regierung seit Ausbruch des Ukraine-Krieges, dass es auch ganz anders geht. Millionen ukrainischer Kriegsflüchtlinge werden zum Großteil offen und herzlich empfangen. Die Europäische Union hat gemeinschaftlich schnell gehandelt, sodass Ukrainerinnen unkompliziert Arbeit aufnehmen und sich im Schengenraum frei bewegen dürfen. Sie treffen auf offene Türen statt auf unüberwindliche Mauern. Solche Wege sind also möglich, wenn der politische Wille dazu besteht. Diese Möglichkeiten – der im EU-Recht verankerte Flüchtlingsschutz – muss allen Geflüchteten offenstehen.
Menschen auf der Flucht begeben sich auf lebensgefährliche Routen, da es kaum legale und sichere Einreisemöglichkeiten in die EU gibt. Eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt ist seit Jahren das zentrale Mittelmeer zwischen Libyen, Tunesien und Italien beziehungsweise Malta. Schon fast 700 Menschen sind dort in diesem Jahr ertrunken, die Dunkelziffer liegt weit höher.
An der EU-Außengrenze wird völkerrechtliche Pflicht missachtet
Die humanitäre und völkerrechtliche Pflicht, Menschenleben zu retten, wird an der EU-Außengrenze Mittelmeer missachtet. „Kein Mensch flieht freiwillig – aber ganz freiwillig können wir uns entscheiden, diesen Menschen zu helfen“, sagt Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Diese Entscheidungen treffen einige Hundert zivile Seenotretter jedes Jahr, in dem sie auf dem Mittelmeer Flüchtende vor dem Ertrinken retten. Sie versuchen, die humanitäre Lücke zu füllen, die Europäische Staaten hinterlassen haben.
Denn alle staatlichen Programme, die proaktiv Seenotrettung betrieben haben, wurden im zentralen Mittelmeer eingestellt und stattdessen die Verantwortung zur Seenotrettung an die sogenannte libysche Küstenwache ausgelagert. Die jedoch zwingt die Menschen mit Waffengewalt illegal nach Libyen zurück. Während die Europäische Union wissentlich Flüchtende an ihrer Außengrenze im Mittelmeer ertrinken lässt, engagiert sich die Zivilgesellschaft mit Spenden und ehrenamtlichem Einsatz, weil sie dies nicht hinnimmt. Unfassbarerweise werden die Retter manchmal für ihren lebensrettenden Einsatz vor Gericht gestellt und angeklagt. So wie derzeit vier Deutsche, darunter der Hamburger Hafenschiffer Dariush Beigui, die 14.000 Menschen das Leben gerettet haben und denen dafür in Italien bis zu 20 Jahre Haft drohen.
Der Weltflüchtlingstag ist Anlass, um in Erinnerung zu rufen, dass Flüchtlinge Rechte haben, und zu Solidarität und Menschlichkeit aufzurufen. Denn hinter jeder Zahl stecken Menschenleben und Schicksale. Die Zivilgesellschaft in Europa muss sich dafür einsetzen, dass die Europäische Union ihren Werten gerecht wird und die Menschenrechte auch und gerade für alle Not leidenden Menschen gelten.
Maike Röttger (55) ist seit Dezember 2021 Geschäftsführerin der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS Humanity, die seit ihrer Gründung 2016 etwa 34.000 Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet hat. Sie arbeitet seit zwölf Jahren weltweit in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe. Zuvor war sie als Geschäftsführerin von Plan International Deutschland tätig.