Hamburg. Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi im Gespräch mit Matthias Iken. Heute über den Umgang mit Russland.

Matthias Iken: Täuscht der Eindruck, dass in der verständlichen Empörung in Europa über die russische Invasion kaum noch jemand der Diplomatie eine Chance einräumt?

Klaus von Dohnanyi: Mir scheint dieser Eindruck leider richtig, aber welche Chancen könnten heute noch für Verhandlungen bestehen, mitten im Bombenkrieg? Kann man erwarten, dass Russland jetzt das Ziel einer Unterwerfung der Ukraine aufgibt? Höchst unwahrscheinlich. Chancen für Diplomatie bestanden über viele Jahre, schließlich wusste man im Westen, dass eine Ukraine in der Nato die „hellrote Linie russischer Interessen“ überschreiten würde, so schrieb vor knapp drei Jahren der heutige Chef der US-Geheimdienste, William Burns. Andere einflussreiche Amerikaner hatten sogar gewarnt, dann gibt es Krieg in Europa. Die Gefahr war voraussehbar, nun ist es zu spät. Aber man muss immer wieder feststellen: Das alles rechtfertigt nicht Russland brutalen Angriff auf die freiheitliche Ukraine!

Iken: Willy Brandt sagte: „Wir alle müssen wissen: Außenpolitik soll Generalstabsarbeit für den Frieden sein.“ Ist dieser Satz in Vergessenheit geraten?

Dohnanyi: Nicht in Deutschland, hier von keiner Partei. Aber wir sind eben nicht Herr der europäischen Sicherheits- und Außenpolitik, der „Chef“ sitzt in Washington. Für viele in den USA war die Ukraine der letzte und wohl wichtigste Baustein in ihrer geopolitischen Erweiterung der Nato als Machtbasis auf dem eurasischen Kontinent. Für uns Europäer war das eben keine „Generalstabsarbeit für den Frieden“, im Gegenteil. Doch auch jetzt im Krieg gibt es Außenpolitik. Gegenwärtig tun wir das einzig Mögliche: schmerzhafte Sanktionen für Russland. Ob es noch andere Wege gibt, um auf den Kreml Einfluss zu nehmen, kann ich von außen nicht beurteilen; man sollte alle nutzen.

Iken: Kann die Politik des Westens überhaupt noch mögliche Lösungen vermitteln, nachdem die meisten Brücken nach Russland gesprengt sind?

Dohnanyi: Russland sucht seit Jahren die Nähe zu China, auch daran hat westliche Politik nachweislich ihren Anteil. China hat offenkundig kein Interesse an einem Krieg in Europa; das zeigte seine Stimmenthaltung im Sicherheitsrat und die Bereitschaft, jetzt zu vermitteln. Kann China Erfolg haben? Kaum, wenn man im Westen zugleich auch hier nur die Konfrontation sucht. Europa und Deutschland müssen zu einer unseren Kräften angemessenen Realpolitik zurückfinden; gegenüber allen drei Weltmächten. Realismus angesichts unserer Möglichkeiten ist gefordert; Generalstabsarbeit für den Frieden.