Was Grüne und Union von Anglern lernen können und was den Wählern bei den Kanzlerkandidaten wichtig ist.
Einer der größten Irrtümer in diesem und anderen Wahlkämpfen in Deutschland ist, dass man bei uns, anders als etwa in den USA, Parteien statt Personen wählt. Rein formal mag das stimmen, tatsächlich geht es, gerade bei Bundestagswahlen und der entscheidenden Frage, wer Kanzlerin oder Kanzler wird, natürlich um die Spitzenkandidaten – und deshalb ist wichtig, sie richtig auszusuchen.
Es gibt das viel zitierte Sprichwort vom Köder, der nicht dem Angler, sondern dem Fisch schmecken muss. Wie sehr das stimmt, erleben gerade die CDU/CSU, die Grünen und die SPD. Die ersten beiden haben ihren Spitzenkandidaten beziehungsweise ihre Spitzenkandidatin bevorzugt nach den eigenen Vorlieben und Vorstellungen ausgewählt. Der CDU ging es darum, den eigenen, neu gewählten Vorsitzenden Armin Laschet nicht zu schwächen und der CSU zu zeigen, wer die größere, stärkere Partei ist.
Söder und Habeck beliebter als Laschet und Baerbock
Bei den Grünen fiel die Entscheidung für Annalena Baerbock auch, weil in der Partei ein Mann als Kanzlerkandidat schwerer zu vermitteln gewesen wäre. Nach innen haben sie alles richtig gemacht, nach außen nicht: In der Beliebtheit bei den Wählerinnen und Wählern rangiert sowohl der CSU-Vorsitzende Markus Söder vor Laschet als auch der grüne Co-Vorsitzende Robert Habeck vor Annalena Baerbock.
Beides keine neuen Erkenntnisse, vor allem, was die Rolle von Söder angeht, aber welche, die die Parteien bei der Auswahl ihrer Anwärter aufs Kanzleramt wenn nicht ignoriert, dann doch viel zu wenig beachtet haben. Was bei der CDU/CSU sicher auch mit dem Glauben zu tun hatte, dass man in Deutschland grundsätzlich eine strukturelle Mehrheit habe, ganz gleich, wer der Spitzenmann ist. Wie gesagt: ein Irrtum, der einer der wesentlichen Gründe für den Absturz der Umfragewerte der Union ist.
SPD erkannte Bedeutung des Kanzlerkandidaten
Die SPD, man möchte sagen: ausgerechnet die SPD, hat die Bedeutung des Kanzlerkandidaten für eine Wahl, an der eben nicht nur Parteimitglieder teilnehmen, dagegen sehr früh erkannt. Das Führungsteam um Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert hatte zu seinem heutigen Spitzenmann Olaf Scholz wie nicht geringe Teile der Sozialdemokratie ein ambivalentes Verhältnis. Der frühere Hamburger Bürgermeister war bisher nicht besonders beliebt in seiner Partei, bei internen Wahlen erzielte er meist bescheidene Ergebnisse.
Dass er trotzdem als Kanzlerkandidat nominiert wurde und dass die Partei seitdem ungewohnt geschlossen hinter ihm steht, spricht einerseits für einen neuen Realismus und Pragmatismus in der SPD, andererseits für eine gute strategische Beratung. Der Hamburger Werber Raphael Brinkert hat die Wahlkampagne von Anfang an komplett auf Olaf Scholz zugeschnitten, so wie es die FDP zum zweiten Mal mit ihrem Spitzenkandidaten Christian Lindner macht. Die Idee dahinter ist einfach: Die Wahrscheinlichkeit, über die Popularitätswerte der
Politiker die Zahl der Stimmen für seine Partei nach oben zu ziehen, ist deutlich höher als andersherum.
Entscheidung für Kanzler ist Bauchentscheidung
Wer glaubt, mit der Kraft eines Parteiprogramms eine Kandidatin oder einen Kandidaten mitschleppen zu können, hat weder das personalisierte Verhältniswahlrecht in unserem Land noch die Psyche der Menschen verstanden. Jede Entscheidung, auch die für einen Kanzler oder eine Kanzlerin, ist immer eine Bauchentscheidung, mal mehr oder mal weniger. Und dabei spielen Eigenschaften wie Sympathie, Erfahrung, Kompetenz, Belastbarkeit und Ernsthaftigkeit entscheidende Rollen.
Für die Parteien mag es vor allem um wohlformulierte und von Parteitagen abgesegnete Formulierungen in Wahlprogrammen gehen; für die Wähler geht es vorrangig um die Frage, wem sie vertrauen.