Hamburg. Hamburgs Hockeyidol Moritz Fürste über den Umgang mit mentalen Ausnahmesituationen im Sport und in der Gesellschaft.

44 Sekunden noch zu spielen im Viertelfinale der Olympischen Spiele 2016 in Rio. Neuseeland zwei, Deutschland eins. Strafecke für uns. Ich schaue auf die Uhr. Wenn ich die nicht reinschieße, ist die Karriere vorbei. Mein letztes internationales Spiel. Was für ein Druck!

Ich spreche kurz mit meinem Mitspieler Tobi Hauke und entscheide mich kurzfristig für eine andere Variante. Tor! Alles fällt von mir ab. Ekstase! Und dann auch noch der Siegtreffer eine Sekunde vor Schluss. Ein olympischer Moment für die Ewigkeit. Danach folgt Leere. Es ist keine Energie mehr da. Adrenalin und Endorphine lassen es mich nicht sofort spüren, aber das hat unfassbar viel Kraft gekostet. Mentale Kraft. Körperlich fühle ich mich, wie man sich mit 31 Jahren nach einem olympischen Viertelfinale um 1 Uhr morgens halt fühlt. Klasse.

Druck und Depressionen dürfen kein Tabuthema mehr sein

Ich konnte damals „abliefern“, wie man im Sport gerne sagt. Dieses Mal hatte es geklappt. Novak Djokovic, der Weltranglistenerste im Tennis, bezeichnete Druck dieser Art kürzlich als Privileg. Ich widerspreche ihm. Druck ist kein Privileg und vor allem kein sportspezifisches Phänomen. Natürlich ist es aufmerksamkeitswirksam, wenn die beste Turnerin der Geschichte, Simone Biles aus den USA, in Tokio den Wettkampf abbricht und als Grund mentale Überforderung und Depressionen angibt. Natürlich fällt auf, wenn Tennis-Ass Naomi Osaka in Tokio in Runde drei überraschend verliert und später sagt, dass „das wohl alles etwas zu viel war“.

Aber diesen Druck gibt es in allen Gesellschaftsschichten und Berufen auf dieser Erde. Und bei uns im Sport ist es am Ende doch auch eigentlich nur ein Spiel. Druck und Depressionen dürfen kein Tabuthema mehr sein. Ich sage es, wie es ist: Wir brauchen Hilfe. Unterstützung beim Umgang mit unserem Alltag und Beruf.

Osaka und Biles müssen Vorbilder werden

Natürlich benötigt ein Anfang Zwanzigjähriger im Leistungssport Support beim Thema mentale Vorbereitung auf Wettkämpfe. Ich kenne kaum internationale Topteams oder Sportler, die nicht mit Sportpsychologen zusammenarbeiten. Fragen Sie mal Laura Ludwig und Kira Walkenhorst, welchen Anteil ihre Sportpsychologin 2016 am Gewinn der Beachvolleyball-Goldmedaille hatte. Unternehmen, die mit Psychologen arbeiten, um das Team besser zu machen, kenne ich wenige.

Osaka und Biles müssen Vorbilder werden für ein Problem, das im Sport auffällt, aber auch in der Gesellschaft existiert. Es ist keine Schwäche, über Druck zu sprechen. Nur sollte man möglichst nicht warten, bis es zu spät ist. Mit wem man diese Gedanken teilt, ist grundsätzlich egal. Ich habe schon immer viel kommuniziert und mir mein Ventil immer mal woanders gesucht. Da musste mein privates Umfeld viel übernehmen und aushalten. Aber wir haben es besprochen – von Anfang an.

Auf Topniveau ist der Kopf die wichtigste Komponente

Die Olympischen Spiele von Tokio haben ein Tabuthema in den Vordergrund gerückt, dem jeder Sportler zustimmen wird: Auf Topniveau ist der Kopf die wichtigste Komponente. Warum trainieren wir ihn dann so wenig? Die Olympischen Spiele sind ein globales Fest des Amateursports. Echte Athleten, mit denen uns Zuschauer eine Nähe verbindet. Die Bogenschützin wird auf einmal zur Projektions­fläche für unsere Leidenschaft. Medaillen für Deutschland zählen – wer sie holt, ist quasi egal. Hauptsache, irgend­jemand tut es.

Sportarten, die vier Jahre lang nicht wahrgenommen werden, stehen auf einmal im Vordergrund. Auf einmal schauen wir Schießen, Fechten, Reiten und Hockey, freuen uns über den Sieg im Ringen, ohne einen blassen Schimmer zu haben, was da gerade wirklich passiert. Diese Plattform ist für alle Sportarten überlebenswichtig. Ohne die Möglichkeit, alle vier Jahre 15 Minuten Ruhm bei Olympia zu bekommen, gäbe es die meisten Sportarten gar nicht mehr.

Deshalb war es im Gesamtkontext der globalen Situation richtig, die Olympischen Spiele stattfinden zu lassen, auch wenn der Druck dort immens ist. Wer dem persönlichen Druck standhalten kann, wird Erfolg haben. Novak Djokovic ist im Halbfinale gescheitert. Vor allem am Hamburger Goldjungen Sascha Zverev. Aber ein wenig sicher auch am Druck, unbedingt den Golden Slam schaffen zu wollen. Deshalb müsste auch er zugeben: Druck ist kein Privileg, er ist eine Herausforderung.