Riskieren wir in der Corona-Pandemie sämtliche Errungenschaften der Bildungsgerechtigkeit? Zwei Meinungen.

PRO:

Ja! Sonst verliert die Politik auch noch die Familien

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Kinder und Familien in diesem Land keine Lobby haben – Corona hätte ihn erbracht. Inzwischen summiert sich die Zahl der Wochen ohne Schule in dieser Pandemie auf 19, und es dürften noch einige hinzukommen. Das Versprechen der Politik, die Schulen als Erstes wieder zu öffnen, wird angesichts der Mutationen gebrochen. Es regiert die Angst. Und diese Angst macht blind für die zentrale Frage: Ist die Therapie, der Dauerlockdown, angesichts der Nebenwirkungen noch angemessen?

Mit jedem weiteren Tag ohne Schule fällt die Antwort klarer aus: Nein, diese Therapie überzieht. Sie hat gleich mehrere Fehler: Deutschlandweit sind die Schulen mehr oder minder dicht – im Kreis Dithmarschen mit einer Inzidenz von 15 ebenso wie in bayerischen Kreisen mit einer Inzidenz nahe 400. Zudem werden alle Bildungseinrichtungen von der Vorschule bis zur Berufsschule über einen Kamm geschoren: Das Infektions- und Übertragungsrisiko zwischen Sechs- und 20-Jährigen schwankt aber erheblich. Wir diskutieren eifrig über Tablet und Computer, aber verlieren völlig aus dem Blick, dass Schule mehr ist als Wissensvermittlung: Sie ist ein Ort des sozialen Lernens. Schulen geben Kindern einen Entwicklungsraum und Struktur.

Wir riskieren in dieser Pandemie sämtliche Errungenschaften der Bildungsgerechtigkeit: Viele Kinder aus bildungsfernen Schichten verlieren den Anschluss, sie verlernen Deutsch, Schüler entwickeln Verhaltens- und Angststörungen. Warum werden keine Kinderärzte und Jugendpsychologen zu den Lockdown-Verhandlungen geladen? Warum ignoriert man die Empfehlung der Europäischen Gesundheitsagentur ECDC? In deren Studie heißt es, „die negativen körperlichen, geistigen und pädagogischen Auswirkungen der Schulschließungen auf Kinder sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft überwiegen wahrscheinlich die Vorteile“.

Einmal mehr sollen geschlossene Schulen das Versagen in anderen Bereichen kaschieren und Handlungsstärke demonstrieren. Auf diesem Irrweg verliert die Politik langsam die Familien. Öffnen wir die Schulen! Und selbst wenn die Infektionszahlen rasant steigen, lassen sie sich – anders als Geschäfte und Restaurants – rasch wieder schließen. Matthias Iken

KONTRA:

Nein! Die Infektionsgefahr ist dort größer als beim Einkaufen

Geht es um Leben und Tod, ist in einer Stadt der Seefahrt eigentlich klar, dass es zur Maxime „Frauen und Kinder zuerst in die Rettungsboote“ keine Alternative gibt, schließlich hängt von beiden die Zukunft einer jeden Gesellschaft ab. Doch was heißt das nun bezogen auf die Corona-Pandemie? Hier klingelt einem stets das Mantra in den Ohren, Schulen und Kitas seien zuallererst zu öffnen, wenn die Inzidenz der Infektionen wieder unter die magische Grenze von 50 pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sinkt. Nur dann nämlich könnten die Gesundheitsämter die Infektionsketten nachverfolgen.

Leider haben sich ebenjene Ämter in der Vergangenheit nicht dadurch hervorgetan, bekannte Infektionswege öffentlich exakt zu benennen. Vielmehr war immer nur schwammig davon die Rede, dass die meisten Infektionen in Seniorenheimen, in Krankenhäusern, im häuslichen Umfeld und am Arbeitsplatz statt­finden – auch Reiserückkehrer wurden gerne noch an den Pranger gestellt, ohne zu differenzieren, ob es sich dabei um junge Party-Touristen am Ballermann, mehrfach negativ getestete Wanderer in den Finca­ferien oder inzwischen zutiefst verdächtige Skiurlauber handelte (viel zu spät wird erst jetzt benannt, wer unter welchen Bedingungen kommen darf).

Dass Einzelhandelsgeschäfte, Museen oder gar Rodelberge (die wurden ja neulich von der Polizei geräumt) die wahren Treiber für Sars-CoV-2 sind, sollte heute niemand mehr behaupten. Doch ebenso wenig stimmt leider die These, dass Menschen unter 18 quasi per Lebensglück nichts mit Corona zu tun haben – hätte man Schulen und Kitas schon Anfang November geschlossen, statt nur die üblichen Verdächtigen mit einem „Lockdown light“ zu gängeln, hätten wir vermutlich längst die 50er-Grenze unterschritten.

Zudem zeigt sich inzwischen, dass Mutationen wie B.1.1.7 (aus England) oder B.1.351 (aus Südafrika) ganz neue Dynamiken in jüngeren Jahrgängen verursachen können. Wer sein Risiko minimieren will, der weiß, wie man sich schützt: Indem man sich außerhalb seiner persönlichen „grünen Zone“ so verhält, als wäre man selbst und jeder andere infektiös. Mit einer guten Maske und Abstand ist dann selbst der Einkauf – egal wo – ungefährlicher als ein Tag in einer zu vollen Schule oder Kita. Georg J. Schulz