Der Trainer über die WM in Ägypten, die Probleme des deutschen Teams und die Folgen des Lockdowns für junge Talente.
Deutschlands zweiter Gruppengegner Kap Verde vorzeitig abgereist, die USA und Tschechien gar nicht erst angereist, die Handball-WM in Ägypten drohte im Chaos zu versinken. Inzwischen scheint sich die Lage stabilisiert zu haben, die Blase hält, in dieser Woche wurde kein Spieler, Trainer oder Betreuer positiv auf Sars-CoV-2 getestet. Alles gut also?
Ich bin leidenschaftlicher Handballer, Trainer der Rhein-Neckar Löwen, einer Bundesliga-Spitzenmannschaft, Angestellter in einem Leistungssportbetrieb, dessen Ziel es ist, ohne dabei anmaßend zu wirken, Menschen zu unterhalten, sie abzulenken von den Mühen des Alltags; gerade wenn dieser vielen im Augenblick trist und eintönig erscheint. Ich bin für die Austragung dieser WM, verstehe jedoch die Bedenken, in ungewöhnlichen Zeiten wie diesen, in denen es ein Gebot der Vernunft wäre, Reisen und Kontakte zu minimieren, ein globales Treffen mit 800 Sportlern zu veranstalten. Hoffen wir, dass alles gut geht.
Dänemark, Norwegen, Frankreich, Spanien und Kroatien harte Konkurrenten
Sportlich bietet die WM viele spannende Spiele. Weil einige Mannschaften ihre etablierten Kräfte vermissen, könnten die Titelkämpfe zur Bühne für neue Stars werden. Dennoch wird sich an den Machtverhältnissen wenig ändern. Weltmeister und Olympiasieger Dänemark, Vizeweltmeister Norwegen, Rekord- Weltmeister Frankreich, Europameister Spanien und Kroatien sind auch in Ägypten die Teams, die es zu schlagen gilt.
Die deutsche Mannschaft gehört diesmal nicht zu diesem Kreis, sie dürfte schon Schwierigkeiten haben, das vom Verband ausgegebene Minimalziel Viertelfinale zu erreichen. Natürlich vermissen wir acht wichtige Spieler, vier, weil sie aus familiären Gründen nicht wollten, vier, weil sie wegen Verletzungen nicht konnten. Selbst bei unserem großen Reservoir an guten Bundesligaprofis sind diese Ausfälle nur schwer zu kom- pensieren. Zudem fehlte der Mannschaft Zeit zum Einspielen, vor allem mangelte es an Härtetests gegen hochklassige Gegner. Bei allem Respekt, die beiden EM- Qualifikationsspiele gegen Österreich und das erste WM-Gruppenspiel gegen Uruguay boten nicht die Möglichkeiten, sich auf das technische und taktische Niveau von Spitzenmannschaften wie Ungarn oder Spanien einzuwerfen.
Balance aus An- und Entspannung aus dem Gleichgewicht geraten
Abstimmung und Kommunikation im neu formierten Mittelblock ließen im verlorenen Gruppenspiel gegen Ungarn dann auch zu wünschen übrig. Die Abwehr fand nicht zu jener Kompaktheit, die Bundestrainer Alfred Gislason in den Auszeiten immer wieder einforderte. Hinzu kam, dass nach der Absage des Spiels gegen die Kapverden das Team gegen Ungarn fast eine Halbzeit brauchte, um in seinen Spielrhythmus zu kommen. Den stimulierenden Mix aus An- und Entspannung zu finden ist stets eine Herausforderung für Mannschaft und Trainer. Wenn es aber zwischen den Begegnungen keine Gelegenheiten gibt, sich abzulenken, und die fehlen in Ägypten wegen der Hygieneauflagen, kann leicht die nötige Balance verloren gehen.
Zum Pessimismus, was den deutschen Handball betrifft, besteht indes kein Anlass, egal wie diese WM auch aus- geht. Wir gehören vom Potenzial her weiter zu den sechs besten Mannschaften der Welt, den Gewinn einer Medaille bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio halte ich für realistisch. Unsere Strukturen stimmen. Wir haben eine sehr starke Liga, gute Juniorenteams und viele Talente. Bei der Dichte der Welt- spitze können aber immer Kleinigkeiten entscheiden, ein Ball an den Pfosten, ein falscher Pfiff der Schiedsrichter oder die Verletzung eines wichtigen Spielers.
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Mehr Sorgen bereitet mir der Lockdown, für unsere Clubs, besonders aber für unseren Nachwuchs. Seit einem Jahr kann er nicht mehr kontinuierlich trainieren. Mein Sohn, der in der A-Jugend- Bundesliga des HSV Hamburg spielt, versucht sich zu Hause mit Krafttraining und Waldläufen fit zu halten. Sein größter Wunsch ist es, mal wieder einen Ball aufs Tor werfen zu können. In allen Altersbereichen geht gerade ein Jahrgang verloren. Deshalb hielte ich es für notwendig, alle Altersgrenzen von der F- bis zur A-Jugend um ein Jahr zu verschieben. Es wäre nicht zu verantworten, 18- Jährige , denen zwölf Monate Erfahrung und Entwicklung fehlen, in der nächsten Saison bei den Erwachsenen spielen zu lassen. Da drohen Verletzungen, Überforderungen. In Dänemark, bekanntlich nicht die schlechteste Handballnation, war der Übergang von der Jugend zu den Männern schon vor Corona um ein Jahr nach hinten verlegt worden. Wir sollten uns jetzt ein Beispiel daran nehmen.