Hamburg. Migranten entwickeln in Deutschland den ersten Impfstoff der Welt. Aber was machen wir daraus?

Wer heute im Proseminar in Soziologie, in einem Leitartikel oder einer der gefühlt 78 Talkshows im gebührenfinanzierten Fernsehen als Schwerintellektueller punkten will, wirft mit einem Modebegriff um sich – dem „Narrativ“. Gemeint ist damit eine „sinnstiftende Erzählung“, die Werte, Ideale und Emotionen transportiert. Ohne diese kommen heute weder ein Fußballverein noch ein Land aus. Dem FC St. Pauli etwa mit seiner Mischung aus „Freudenhaus der Liga“ und der Erzählung des „etwas anderen Vereins“ gelang es sehr früh, auch Nichtfußballer und Intellektuelle für sich zu gewinnen. Die USA leben bis heute vom Ruf als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, in dem jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann.

Menschen mögen Erzählungen, die eine Strahlkraft entwickeln: Deshalb sind die Hamburger auch stolz auf ihre Stadt, die sie für die schönste der Welt halten, während das Selbstbewusstsein in Delmenhorst oder Castrop-Rauxel weit weniger ausgeprägt ist. Die Narrative müssen nicht immer stimmen, wichtiger ist ihre identitätsstiftende Wirkung.

Statt Vergangenheit die Zukunft anvisieren

Deutschland hingegen ist ein bisschen wie der HSV — die beiden haben schon lange kein Narrativ mehr. Warum sollte man als Zugereister ausgerechnet HSV-Fan werden? Und warum sollte man als Zuwanderer Deutschland mögen? Wir hadern so mit uns selbst, dass schon das Wort deutsch unter Generalverdacht gerät. Selbst Kanzlerin Angela Merkel spricht statt von Deutschen lieber von „Menschen, die schon länger hier leben“. Ein solcher Blödsinn wäre Gerhard Schröder oder Joschka Fischer nie über die Lippen gekommen. Es zeigt aber, wie brüchig die deutsche Identität längst ist.

Nun ist angesichts der schaurigen Geschichte Skepsis immer angebracht, und Nationalismus bleibt grober Unfug – aber die Radikalität, mit der hierzulande vom „Deutschland, Deutschland über alles“ zum „Land, dessen Namen man nicht sagen darf“ umgeschwenkt ist, ist nur eins: gnadenlos deutsch. Es stört keinen großen Geist, wenn die Bundestagsvizepräsidentin (!) Claudia Roth (Grüne) 2015 auf einer Anti-AfD-Demo mitlief, auf der hörbar skandiert wurde: „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ oder „Deutschland verrecke“. Dieses Debattenniveau ist etwas unterkomplex. Man sollte nicht nur benennen, was in der Geschichte alles falsch lief, sondern zur Abwechslung auch einmal, wohin es in Zukunft laufen soll.

Angela Merkel lobt verhalten

Ein solches Narrativ hätte man in Mainz finden können: Dort haben die beiden Gastarbeiterkinder Uğur Şahin und Özlem Türeci mit dem Österreicher Martin Huber eine Aktiengesellschaft aus der Johannes-Gutenberg-Universität heraus gegründet, auf die die Welt mit Stolz und Begeisterung schaut: das Biotechunternehmen Biontech. Was hätte man daraus für ein Narrativ ableiten können — über den großartigen Beitrag von Migranten, die gern übersehene Qualität deutscher Hochschulen, klug investiertes Wagniskapital und unternehmerischen Wagemut.

Allein, es herrscht Schweigen. Als der dritte Impfstoff in Großbritannien zugelassen wurde, an dem die Universität Oxford beteiligt war, überschlug sich Boris Johnson: „Das sind wirklich fantastische Neuigkeiten und ein Triumph für die britische Wissenschaft.“ Nun ja. Bei Angela Merkel hörte sich das Lob so an: „Wir als Bundesregierung sind mächtig stolz, dass es bei uns im Lande solche Forscher gibt.“

Biontech-Vakzin zuerst in Großbritannien verimpft

Nur wird weltweit aufstrebenden Forschern kaum aufgegangen sein, was „bei uns im Lande“ möglich ist, ja um welches Land es sich dabei überhaupt handelt: Verimpft wurde das Biontech-Vakzin erst einmal in Großbritannien, der große Pharma-Partner ist das US-Unternehmen Pfizer, Biontechs Börsengang erfolgte in den USA. Es geht hier nicht um Deutschtümelei, sondern darum, sein Licht nicht ständig unter den Scheffel zu stellen. Es geht um das Narrativ eines Landes.

Wer nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Stolzsein in den Keller geht, ist unsympathisch. Es ist nicht nur wenig attraktiv für die „Menschen, die hier schon länger leben“. Es ist auch unglaublich unsexy für Neubürger, für Zuwanderer, für die Deutschen von morgen. Wenn der Sozialstaat unser einziges Versprechen bleibt, wird dieses Versprechen nicht mehr lange funktionieren.