Die Corona-Lage ist dramatisch – ein neuerlicher Lockdown aber ist es auch.

Die Drucksache 17/12051 des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2012 bietet faszinierenden Lesestoff. In dieser Risikoanalyse wird in geradezu prophetischer Weise der Verlauf einer Pandemie durch ein Modi-Sars-Virus skizziert, die „statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1000 Jahren eintritt“: Das Virus kommt aus Asien, breitet sich rasant aus und verändert das Leben weltweit. Es gibt nur zwei Unterschiede: Die Letalität ist mit zehn Prozent rund zehnmal so hoch wie Covid-19 – und einen Lockdown gibt es nicht: Die in der Analyse des Robert-Koch-Instituts entworfenen Szenarien sehen beispielsweise nur Schulschließungen und Absagen von Großveranstaltungen vor. Weitere autoritäre Maßnahmen lagen außerhalb der Vorstellungswelt.

Acht Jahre später geht Deutschland in den zweiten Lockdown. In digitalen Zeiten erscheint möglich, was vor wenigen Jahren noch außerhalb der Vorstellungswelt lag: Millionen Arbeitnehmer wechseln ins Homeoffice, Schüler und Studenten bekommen Fernunterricht, Einkaufen geht per Internet. Und es gibt gute Argumente, die die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten nun ins Felde führen, um den zweiten Lockdown zu begründen: Das Infektionsgeschehen ist dramatisch, viele Kliniken stehen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Der sogenannte Lockdown light hat nur erreicht, dass die Zahl der Neuinfektionen nicht mehr so stark steigt, sie fällt aber nicht. Die Tage zwischen den Jahren sind volkswirtschaftlich für einen Lockdown am besten geeignet – sollte es gelingen, die Neuinfektionen deutlich zu senken, könnte es schon Mitte Januar größere Lockerungen geben.

Und doch wird dieses zweite Herunterfahren auf wesentlich mehr
Widerstände stoßen – denn mehr noch als im Frühjahr stellt sich die Frage, ob die Nebenwirkungen der Therapie langfristig nicht schwerer wiegen. Das Argument, der Lockdown sei „alternativlos“, wird auch nicht besser, wenn man es wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ständig wiederholt. Nichts im Leben ist alternativlos – gerade in einer Demokratie geht es um ein ständiges Ringen der Argumente. Zweifellos sprechen viele Fakten für einen harten Lockdown. Es sprechen aber auch Fakten dagegen. Ist der große Hammer das richtige Besteck?

Deutschland kann hier von zwei Bürgermeistern lernen. Als hierzulande noch erbittert über Sinn oder Unsinn von Masken diskutiert wurde, führte
Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche (FDP) am 6. April die Maskenpflicht ein. Das Ergebnis war auffällig: Von da an stieg die Zahl der Infizierten deutlich langsamer als in vergleichbaren Kommunen. Die Zunahme in Jena entsprach nach einer Untersuchung der Universität Mainz nur noch 22,9 Prozent des Wachstums in der Vergleichs­gruppe.

In Tübingen wiederum zeigt der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer, wie man offenbar Risikogruppen schützen kann: Mit einer Vielzahl von Maßnahmen für ältere Menschen – etwa kostenlose FFP2-Masken, Tests, Schutzkleidung, Sonderöffnungszeiten oder stark vergünstigte Taxifahrten – gibt es dort weniger Infektionen bei älteren Menschen. Auch Massenausbrüche in Alten- und Pflegeheimen konnte man so zumindest bis jetzt verhindern. Es verwundert schon, dass inzwischen die Corona-Folgekosten sich allein im Bundeshaushalt auf unvorstellbare 500 Milliarden Euro aufsummieren, auf der anderen Seite aber Masken offenbar zu teuer sind.

Das sind Fragen, die dringend diskutiert werden müssen. Aber sie kommen in der politischen Debatte zu wenig vor – die Kritik vieler Bürger hat sich durch die Nähe der „Querdenker“ zu Wirrköpfen und Rechten selbst diskreditiert. Es regiert in der Politik eine fast einhellige Fixierung auf Bedrohungen und in vielen Medien eine leichte Hysterie. Selbst in Qualitätszeitungen wird kommentiert, „heute sterben auch Kinder, Sportler und Gesunde“. Das ist zwar nicht ganz falsch – aber auch nicht richtig: Es gibt in Deutschland zehn Corona-Tote in der Altersgruppe unter 20. Es sterben demnach mehr Menschen mit über 90 als unter 70-Jährige.

Jeder Tote ist ein Toter zu viel – aber man muss auch diese Zahlen kennen, wenn mit immer neuen Horrordaten hantiert wird. Und wenn Markus Söder warnt, Deutschland werde bald zum Sorgenkind Europas, gibt auch das die Statistik nicht her: Im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepublik nach Daten der ECDC mit 336 Covid-19-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in 14 Tagen im unteren Drittel des Kontinents – wenn auch mit steigender Tendenz.

Das alles darf nicht zu Leichtsinn verführen. Die Lage ist ernst. Aber der nun verfügte Lockdown zeigt noch einmal deutlich, dass es endlich einer Langfriststrategie bedarf. Ein „Fahren auf Sicht“ ist dann gefährlich, wenn man einem falschen Weg folgt. Der Epidemi­ologe Klaus Stöhr, früher SARS-Forschungsleiter der Weltgesundheitsorganisation WHO, verweist auf das Dreieck von Wirtschaft, Gesundheit und Freiheit. Wo aber ist der Mittelweg? Je länger der Lockdown dauert, umso dramatischer werden die Kollateralschäden. Es zeugt von einem Übermaß an Staatsgläubigkeit, zu meinen, jede wirtschaftliche Folge könne der Bundesfinanzminister ausgleichen. Gerade das aber machen SPD und CDU bis heute glauben.

Auch im sozialen und gesellschaft­lichen Bereich drohen schwere Verwerfungen. Das neuerliche Herunterfahren wird die Existenzen vieler Menschen gefährden. Während mancher Besserverdiener in Blankenese sich über eine längere Weihnachtsauszeit vielleicht sogar freut, sieht die Situation beim selbstständigen Friseur in Billstedt ganz anders aus. Es ist daher gut, dass Hamburg sich in einer zentralen Frage von den
Abmachungen der Ministerpräsidenten und der Bundesregierung emanzipiert – bei den Schulen.

Bildungssenator Ties Rabe (SPD) hatte noch am Freitag betont, wie wichtig die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts ist. Dabei hatte er sich die Unterstützung der Kinder- und Jugendärzte geholt. Der erste Lockdown mit Schulschließungen und Sportverboten hat vielen Kindern und Jugendlichen enorm zugesetzt. Gerade bei bildungsfernen Elternhäusern und in Migrantenfamilien konstatieren die Experten große Probleme. Auch hier stellt sich längst die Frage der Verhältnismäßigkeit.

Sie gilt es in den kommenden Tagen endlich intensiver zu diskutieren. Denn was kommt nach diesem Lockdown?