Bisher war Hamburg stolz auf Emily Ruete, die Prinzessin von Sansibar. Nun passt sie manchen nicht mehr in ihr Weltbild.

Im Jahre 1984 war das gleichnamige Buch von George Orwell ein Bestseller – es erzählt die Geschichte von Winston Smith, der im Wahrheitsministerium arbeitet. Seine Aufgabe ist es, nicht genehme Fakten und Daten zu manipulieren oder zu löschen, also die Geschichte geschmeidig den aktuellen Anforderungen und Launen anzupassen. Orwell hat ein furioses Buch über den Totalitarismus geschrieben – und man möchte es all denen, die derzeit für eine „Cancel Culture“ kämpfen, als Bettlektüre empfehlen. Leider aber ist die Lust, sich mit den Gedanken von Andersdenkenden zu befassen, erlahmt und in eine tumbe Empörungslust umgeschlagen. All das, was den gerade gültigen „Wahrheiten“ nicht entspricht, soll mundtot gemacht werden, ja, verschwinden. Und Hamburg schickt sich offenbar an, Hauptstadt dieser „Cancel Culture“ zu werden.

Vor Kurzem erregte eine Kita-Leiterin aus den Elbvororten Aufmerksamkeit, als sie in der „Zeit“ auf die Frage „Welche Bücher sind es in den Kitas, die ins Altpapier müssen?“ (sic!) antwortete: „,Jim Knopf‘ wird leider noch oft gelesen. ,Jim Knopf‘ reproduziert viele Klischees zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen. ,Jim Knopf‘ ist so, wie sich Weiße ein lustiges, freches, schwarzes Kind vorstellen.“ Und die Kita-Leiterin und Streiterin für „diskriminierungssensible, rassismuskritische Frühbildung“ legte nach: „Auch ,Pippi Langstrumpf‘ liegt als Buch fast in jeder Kita.“ Wäre es nicht so bitter, man möchte lachen. Denn der wichtige Kampf gegen Rassismus wird bei diesen Hyperaktivisten zur Farce.

„Cancel Culture“ greift um sich

Inzwischen kann man diese Kolumne jede Woche schreiben – denn die „Cancel Culture“ greift um sich. Wenn die digitalen Blogwarte losmarschieren und die Twitter-Wirtshausschläger losprügeln, gehen alle in Deckung: Es reicht der Vorwurf, ein Rechter, ein Antisemit oder ein Rassist zu sein, und Pardon wird nicht mehr gegeben. Argumente verlieren ihre Wichtigkeit, der Vorwurf allein genügt.

„Cancel Culture“ allerorten – schon der Begriff sollte aufhorchen lassen. Manchmal hilft eine Übersetzung, um die Augen zu öffnen. Wollen wir eine „Kultur des Auslöschens“? Oder des Verschwindenlassens? Das war eigentlich die Spezialität rechter Todesschwadronen und Militärs gegen linke Oppositionelle. Was ist das für ein orwellscher Umgang mit der Geschichte, wenn wir aus der Tagespolitik heraus historische Figuren bewerten?

In Hamburg tobt nun ein Streit um Emily Ruete

In der Hansestadt tobt nun ein Streit um Emily Ruete. Erst 2019 wurde auf Vorschlag von SPD und Grünen nach ihr ein Platz im Finkenau-Quartier benannt. Die Grünen sagten damals völlig zu Recht: „Mit Emily Ruete haben wir eine starke und spannende Persönlichkeit als Namensgeberin des neuen Quartiersplatzes ausgewählt.“ Sie habe sich von den Beschränkungen, „die damals auch in ihrem Herkunftsland für Frauen galten“, nicht aufhalten lassen. Begraben ist Ruete auf dem Ohlsdorfer Friedhof, ein Stein im „Garten der Frauen“ erinnert an sie, steht sie doch symbolisch für alle Zugewanderten.

Nun ist alles völlig anders, weil manche Politiker entweder nicht lesen wollen oder es nicht können. Der rot-grünen Bezirksversammlung Hamburg-Nord ist aufgefallen, dass Ruete das böse „N-Wort“ benutzt und die Sklaverei verteidigt hat, eine angeblich „erst jetzt zutage getretene kritikwürdige Ansicht“. „Ihre Äußerungen gegenüber den Sklav*innen sind rassistisch“, heißt es. Dabei waren Ruetes Bücher „Memoiren einer arabischen Prinzessin“ und „Leben am Sultanspalast“ schon 1886 Bestseller.

Ruete musste allein für ihre drei Kinder sorgen

Es ist wahrhaft eine investigative Sensation, dass die Tochter des Sultans von Oman und Sansibar so tickt, wuchs sie doch in einer Gesellschaft auf, in der die Sklavenhaltung üblich war. Eine Person aus dem 19. Jahrhundert mit dem Maßstäben des 21. Jahrhunderts zu bewerten ist schief. Und unhistorisch ohnehin: Gerade Hamburg hat sie als verwitwete „Person of Color“ böse diskriminiert.

Die Behörden verweigerten ihr das zustehende Erbe und setzten einen Vormund ein, der das Vermögen durchbrachte. Ruete musste allein für ihre drei Kinder sorgen und schlug sich als Arabisch-Lehrerin und Autorin durch. In Sansibar selbst ist man stolz auf die Prinzessin. Schon auf dem Flughafen werden ihre Memoiren auf Deutsch, Englisch, Russisch und Swahili angeboten. Im Sultanspalast erinnert ein Museum an sie.

Was man wohl in Afrika von der deutschen „Cancel Culture“ hält?