Die Attacke auf Nawalny zeigt: Das System Putin setzt auf Machterhalt um jeden Preis
Hinter den Reaktionen aus Moskau stecken die alten Reflexe: Nebelkerzen werfen, Zweifel säen, ausländische Verschwörungen an die Wand malen. Die Giftgasattacke auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist demnach kein Anschlag, sondern eine Unterstellung. Die russische Regierung samt ihrer nachrichtendienstlichen und militärischen Trabanten stellt sich als Opfer dar. Nicht der Kreml muss aufklären, sondern die Bundesregierung. Das Labor der Bundeswehr, das das Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe „zweifelsfrei“ identifiziert hat, steht auf einmal am Pranger. Bei der Informationspflicht wird der Spieß einfach umgedreht.
Der Einsatz von chemischen Waffen gegen Oppositionelle ist ein Tabubruch. Die Bundesregierung kann es nicht bei reiner Empörung bewenden lassen. Sollte Russland keine schnelle und umfassende Aufklärung liefern, muss Kanzlerin Angela Merkel im Verbund mit der EU ein starkes Signal setzen. Symbolische Aktionen reichen nicht. Wirtschaftssanktionen sind immer ein zweischneidiges Schwert, weil sie auch eigene Firmen treffen. Doch im Fall Nawalny darf es kein Tabu geben. Auch ein Abbruch des Pipeline-Projekts Nordstream 2 – für Russlands Präsident Wladimir Putin ein Prestigevorhaben – sollte zum Instrumentenkasten gehören.
Ob Putin den direkten Befehl zum Giftgaseinsatz gegeben hat oder nicht, ist zweitrangig. Zumindest kann von einer Mitwisserschaft ausgegangen werden. Fest steht: Das System Putin war und ist in der Lage, derlei brutale Taten zu begehen. Es geht um maximale Einschüchterung und die Ausschaltung von politischen Gegnern.
Nawalny ist Putins gefährlichster Widersacher. Er organisierte Proteste in den Regionen. Hinzu kommt, dass der Präsident keine positive Bilanz vorweisen kann. Schlechte Aussichten nach sechs Jahren sinkender Löhne machen Hoffnungen der Bevölkerung auf Fortschritt zunichte. Noch nie waren Putins Popularitätswerte so niedrig wie heute.
Nawalny war fasziniert von den Widerständlern in Belarus, an denen sämtliche Drohungen des Autokraten Alexander Lukaschenko abprallten. Passierte dies in Russland auf breiter Front, würde die Autorität des Kremlchefs brüchig. Deshalb unterstützt Putin Lukaschenkos Politik der eisernen Faust. Er hält seine Sicherheitskräfte als Interventionsreserve in Stellung, sollte die Lage im Nachbarland eskalieren. Der Kremlchef setzt nach außen auf Intervention und Einmischung. Doch Putin wird nicht nur von der Sorge getrieben, dass im Vorgarten seines Riesenreiches ein Demokratie-Labor mit Meinungs- und Versammlungsfreiheit entstehen könnte. Der Präsident fürchtet vielmehr, dass der Belarus-Funke auf sein Land überspringt.
Putin ist ein postsowjetischer Politiker mit sowjetischen Reflexen. Die Weiterexistenz des Systems und der Ausbau von Einflusssphären gehen ihm über alles. Im Grunde handelt es sich um eine Breschnew-Doktrin 4.0. So wie der damalige KPdSU-Generalsekretär im August 1968 den Prager Frühling mit Panzern niederwalzen ließ, beansprucht Putin heute das Recht auf Militärintervention. Damals ging es um die „beschränkte Souveränität“ der Warschauer-Pakt-Staaten, sollte der Sozialismus bedroht sein. Unter Putin steht die Zementierung verbündeter Regime an erster Stelle.
So schmetterte der Präsident alle Vorstöße westlicher Staaten ab, den syrischen Machthaber Baschar al-Assad auf einen Dialog mit der Opposition zu verpflichten. Die Forderungen nach einem Reformprozess wurden mit einem schroffen „Njet“ beantwortet. Mit der gleichen Härte wird er versuchen, Lukaschenko im Amt und innenpolitische Gegner vom Leib zu halten.