Hamburg. Unser Geschichtsbild darf nicht eingefroren werden, sagt der Historiker Jürgen Zimmerer – und wehrt sich gegen Kritik.

Wir müssen über Bismarck nochmals sprechen! Vor einigen Wochen plädierte ich dafür, die ihm gewidmeten Denkmäler nicht einfach zu entfernen, sondern radikal zu entheroisieren und durch Verfremden eine Auseinandersetzung mit den Schattenseiten seines Wirkens, etwa seiner wichtigen Rolle im Kolonialismus, zu fördern. Eine Idee, die Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda aufgenommen und mit dem schönen Bild eines „notwendigen Störgefühls“ (der Sehgewohnheiten) versehen hat.

Nicht alle sind allerdings offenbar so aufgeschlossen! Die Heftigkeit der Reaktionen wirft Fragen auf. Von Bildersturm ist die Rede, von Säuberung – Auslöschung gar – der Geschichte. Dabei gibt es das oft geforderte einfach Stehen-Lassen gar nicht: Denkmäler werden aufgestellt und abgebaut, sie werden errichtet, und sie verfallen. Das ist der normale historische Verlauf.

Das Einfrieren eines Geschichtsbildes, wie es den Verteidigern der historischen Gedächtnislandschaft vorschwebt, ist dagegen rückwärtsgewandte Identitätspolitik. Hier wird konserviert, was schon lange keine gesellschaftliche Entsprechung mehr hat. Das zeigt sich auch in den Geehrten. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass nur (weiße) Männer Beachtliches geleistet hätten und etwa nicht auch Frauen, Arbeiter und Arbeiterinnen oder Tagelöhnerinnen? Zudem benötigt das gefrorene Gedächtnis ebenfalls des konservierenden Eingriffs. Würde Hamburgs 35 Meter hoher Bismarck nicht mit Millionenaufwand restauriert, er würde sich von selbst hinlegen, entheroisieren.

Viele verwechseln Geschichtsschreibung und Gedächtnispolitik

Viele verwechseln zudem Geschichtsschreibung und Gedächtnispolitik. Wenn sie fordern, „dass Figuren der Geschichte aus ihrer Zeit heraus verstanden werden müssen“, dann verkennen sie, dass Denkmäler immer nach den Maßstäben der jeweiligen Gegenwart beurteilt werden. Gedächtnispolitik ist die Selbstverständigung einer Gesellschaft darüber, was sie für ehrenswert erachtet. Ist ein Denkmal in die Kritik geraten, muss sich die heutige Gesellschaft positionieren. Die Entscheidung, nichts zu verändern, ist de facto eine Neusetzung, und zwar nach heutigen Werten.

Die Debatte ist aber noch grundsätzlicher auch eine darüber, was Geschichtsschreibung will. Meinen Hinweis, Bismarck habe „an entscheidender Stelle Weichen gestellt“ für die Verbrechen des Kolonialismus, etwa den Völkermord an den Herero und Nama, bügelte der Geschäftsführer der Otto-von- Bismarck-Stiftung, Ulrich Lappenküper, mit dem Hinweis ab, man könne das nur behaupten, „wenn man die These vertritt, dass irgendwie alles mit allem zusammenhängt“. Das ist ein erstaunlicher Satz für einen Historiker! Was, wenn nicht die Untersuchung der Ursachen wie der Folgen bestimmter Handlungen und Ereignisse, ist denn Gegenstand der Geschichtswissenschaft?

Und seit wann endet die Verantwortung von Politikern und Politikerinnen mit dem Ausscheiden aus dem Amt? Führen Weichenstellungen nicht immer über das eigene Wirken hinaus? Sie von den langfristigen Konsequenzen ihres Handelns freizusprechen ist Arbeit am Mythos, nicht Wissenschaft!

Lappenküpers europazentrierte Perspektive

Übrigens heißt es in meinem Interview: „Er (Bismarck) ist nicht individuell dafür (Genozid) verantwortlich, hat aber an entscheidender Stelle Weichen gestellt, die dann dazu führten. Verantwortung für das koloniale System haben eben auch Männer wie Bismarck.“ Das koloniale System war ein menschenverachtendes, rassistisches Unrecht, und zwar von Anfang an.

In Lappenküpers europazentrierter Perspektive kommt das nicht vor. Sätze wie „Als sein Werben um eine ,Kolonialehe‘ mit Frankreich kurz darauf scheiterte, beendete Bismarck das koloniale Abenteuer abrupt“ belegen dies. Das „Abenteuer“ war für viele Kolonisierte kein „Abenteuer“, sondern ein tiefer Einschnitt mit verheerenden Folgen, und dieses wurde auch nicht von Bismarck beendet. Das deutsche Kolonialreich bestand bis 1919 fort, die Teilung Afrikas wirkt noch heute nach.

Es ist die Aufgabe von Historikern und Historikerinnen, diese Verbindungen zu sehen und zu benennen, auch Konsequenzen und Opfer in die Geschichte einzuschreiben, welche die herrschaftliche Geschichte der „großen Männer“ ignoriert. „Der Zeitgeist ist ein unstetes Wesen“, schreibt Lappenküper. Dem entkommt man aber nicht, indem man sich in Geist und Perspektive des 19. Jahrhunderts einmauert.