Hamburg. Trainerwechsel gehören in Hamburg zum Standardrepertoire – Zeit für einen Strategiewechsel. Ein Kommentar.
Der HSV dient seit Jahren als reicher Quell für Quizfragen, vor allem in der Kategorie Trainer. Zum Beispiel: Ordnen Sie alle Trainer der vergangenen zehn Jahre (ohne Interimslösungen) in der richtigen Reihenfolge an. Schwierig, sind ja schließlich zwölf, von Armin Veh (fing im Juni 2010 an) bis aktuell Dieter Hecking. Oder aber eine Schätzfrage: Wie lange hält sich ein Fußballlehrer bei den Hamburgern seit 2010 im Schnitt? Richtige Antwort: Es sind 298 Tage, also nicht einmal annähernd eine Saison.
Insofern darf man mit Recht von einer kleinen Sensation sprechen, dass der HSV überhaupt darüber nachdenkt, den Vertrag mit Hecking im (wahrscheinlichen) Nichtaufstiegsfall zu verlängern. Eine komplette Saison und danach den Auftakt der nächsten Serie zu erleben, das war in diesem Zeitraum nur Thorsten Fink (2013) und Bruno Labbadia (2016) vergönnt. Die „Hire and Fire“-Philosophie (Heuern und Feuern) ist im Club so tief verwurzelt, dass neben den Trainern auch Sportchefs, Vorstände und Aufsichtsräte munter gewechselt wurden. Von Spielern ganz zu schweigen. Aber das ist ein anderes Thema.
Den erprobten Hamburger Weg auch bei Hecking, dessen Vertrag sich nur im Aufstiegsfall automatisch verlängern würde, einzuschlagen, dafür gäbe es gute Gründe. Ja, im Nachhinein als Außenstehender die nicht aufgegangenen Entscheidungen eines Trainers anzuprangern gehört zu den leichteren Übungen. Es ist nun mal Fakt, dass der 55-Jährige einige Male ziemlich danebenlag, man denke nur an einige Auswechslungen. Nicht gerade für ihn sprechen der zuweilen gruselig langsame Spielaufbau und auch die zuletzt negative Entwicklung einiger talentierter Spieler wie Sonny Kittel, Adrian Fein und Bakery Jatta. Und ob er wirklich gut beraten war, auf die fußballerischen Dienste eines Gideon Jung auf zentralen Positionen zu setzen, ist nur eine von vielen Fragen, die sich Hecking hoffentlich nach dem Saisonende selbst stellen wird.
Aber auch die Clubführung muss während ihrer Saisonanalyse Antworten finden: Ist Hecking der richtige Mann, um ein Team aufzubauen, es zu fördern, besser zu machen? Ist der Trainer mit seinen 20 Jahren Berufserfahrung bereit, auch selbstkritisch die nötigen Lehren zu ziehen? Falls dem so ist, darf er nicht nur beim HSV bleiben. Er sollte es sogar.
Sein zuweilen knurriges Verhalten in Presserunden könnte zwar auf eine Beratungsresistenz hinweisen. Doch es gibt andere Indizien, dass Hecking sehr wohl Neues zulässt und bewusst mit Routinen bricht. Zum Beispiel, indem er mit Tobias Schweinsteiger einen neuen Co-Trainer engagierte und mit Patrick Esume einen American-Football-Trainer holte. Weil er wohl spürte, dass diese Mannschaft gerade im mentalen Bereich nicht stark genug für den Aufstiegskampf war.
Wäre es nicht einen Versuch wert, Hecking eine zweite Chance zu geben? Wie wäre es, dem Reiz des Neuen zu widerstehen und die Zusammenarbeit in der sportlichen Führung zwischen Sportvorstand Jonas Boldt, Sportdirektor Michael Mutzel und eben Hecking wachsen zu lassen? Dass fehlende personelle Kontinuität die Hamburger in die Zweite Liga stürzen ließ, ist ja wohl unstrittig.
Nebenbei: Obgleich es sich nicht sofort in Punkten niedergeschlagen hat, so blieben imageschädigende Negativgeschichten in der jüngeren Vergangenheit aus. Wenn über den HSV diskutiert wird, dann nur noch beispielsweise darüber, ob Aaron Hunt zu alt und zu langsam ist. Man muss ja mit solchen Prognosen vorsichtig sein, aber der HSV könnte (endlich) auf dem richtigen Weg sein, ein normaler „Fußball“-Verein zu werden – die Basis für zielgerichtetes Arbeiten.
Natürlich, wir reden hier nur über Wahrscheinlichkeiten, welcher Weg den HSV zurück in die Bundesliga führen könnte. Und sicher, ein neuer Trainer (wer drängt sich überhaupt auf?) hat stets den Vorteil, unbelastet an die Aufgabe gehen zu können – umgekehrt muss er allerdings auch bei null anfangen. Und ein Neuer bringt immer Wünsche mit (Trainerstab, Team). All das kostet Geld, das der HSV nicht hat, schon gar nicht in Corona-Zeiten. Geduld und Vertrauen, das könnten nun die Fundamente eines neuen Hamburger Wegs sein.