Der Senator wird für die Grünen zur Schlüsselfigur bei der Mobilitätswende.
Der Abschied von der autogerechten Stadt ist in aller Munde. Nur auf Steinwerder und auf dem Heiligengeistfeld kehrt sie gerade zurück: Mit der Eröffnung gleich mehrerer Autokinos wird eine Skurrilität der 50er-Jahre wiederbelebt. Ganz so tot, wie manche Autogegner die Individualmobilität derzeit machen, ist sie noch lange nicht – das zeigt sich in der Corona-Krise überdeutlich. Die Zukunft der Mobilität ist nicht nur eine Überlebensfrage für Metropolen, sondern auch für die Politik.
In diesem Umfeld übernimmt der ehemalige Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks nun das Verkehrsressort und damit ein Kernressort der Stadtentwicklung, das aus der SPD-geführten Wirtschaftsbehörde herausgelöst wird. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass ein grüner Politiker in Hamburg dafür verantwortlich zeichnet – 2008 bekam Parteifreundin Anja Hajduk in der Hansestadt sogar ein neu geschaffenes Superressort aus Stadtentwicklung, Umwelt und Verkehr –, aber die Zeiten haben sich geändert. Einerseits ist in der Bevölkerung die Bereitschaft zu neuen Verkehrskonzepten auch angesichts neuer Möglichkeiten durch die Digitalisierung gewachsen, andererseits hat sich das Verkehrsproblem seit Hajduks Zeiten exorbitant vergrößert. Vor zwölf Jahren lag die Zahl der Personenkilometer noch bei 52,6 Millionen, ist diese Zahl inzwischen auf deutlich über 70 Millionen Kilometer gewachsen. Während das Bedürfnis nach Mobilität wächst, wachsen die Straßen- und Wegenetze kaum – der Verteilungskampf in der Stadt nimmt an Härte zu.
Ein neues Denken ist daher überfällig, und eine neue Farbe in der Verkehrspolitik birgt Chancen: Es muss darum gehen, den Wirtschaftsverkehr fließen zu lassen, zugleich aber neue Verkehrsträger an Stelle des Privat-Pkw und den öffentlichen Nahverkehr zu fördern. Mit Lastenrädern kann man den Hafen nicht in die Zukunft bringen, mit Stadträdern hingegen die Straßen effizient entlasten. Das Fahrrad soll nun laut Koalitionsvertrag seinen Anteil auf 25 bis 30 Prozent steigern. Das mag vermessen klingen. Als Anja Hajduk 2008 antrat, wollte sie den Fahrradanteil bei der Verkehrsmittelwahl von neun auf 18 Prozent steigern. Das gelang. In Europa lässt sich in der Corona-Krise besichtigen, wie große Metropolen ganze Straßenzüge für das Rad und alternative Verkehrsmittel öffnen – sogar autofixierte Städte wie Mailand, Paris oder Brüssel wagen neue Wege. Wann, wenn nicht jetzt, bieten sich an der Elbe zeitlich befristete Versuche an? Politik lebt von Versuch und Irrtum. Verkehrsberuhigung wird an der einen Stelle, etwa im Rathausquartier, funktionieren, an anderen Orten hingegen scheitern. Wer Versuche beginnt, muss ergebnisoffen entscheiden.
Wer die nötige Verkehrswende zum Erfolg bringen will, sollte sich nicht ideologisch fesseln: Das Auto ist nicht per se böse, das Fahrrad oder auch der öffentliche Nahverkehr nicht überall der Weisheit letzter Schluss. Abseits der Magistralen könnten Gemeinschaftsstraßen, so genannte Shared Spaces, die Lösung sein – Fußgänger, Radler und Autos sind hier gleichberechtigt. Es wäre zugleich der vernünftige Rückbau der autogerechten Stadt, die einstmals das Auto auf Kosten anderen Verkehrsteilnehmer einseitig bevorzugt hatte.
Anjes Tjarks steht vor der schwierigen Aufgabe, die hohen Erwartungen der Fahrradlobby und seiner Parteifreunde auf der einen Seite und die berechtigten Interessen der Wirtschaft und Anlieger auf der anderen Seite zu versöhnen. Das Zeug dazu hat der pragmatische Realpolitiker. Und die Corona-Krise öffnet ein Fenster der Möglichkeiten, Verkehr in einer Metropole neu zu denken. Zu langes Warten aber wird dieses Fenster schnell wieder schließen.