Coronavirus: Je stärker die Infektionszahlen sinken, desto lauter werden die Rufe der Warner.
Kennen Sie das sogenannte Präventionsparadox? Damit sind die Erfolge der bisherigen Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Krise gemeint, die im Nachhinein den Eindruck entstehen lassen könnten, dass die Ausbreitung des Virus gar nicht so schlimm gewesen wäre – und all die politisch verordneten Beschränkungen deshalb übertrieben.
Das ist aber nicht das einzig Paradoxe an und in dieser Krise. In Zeiten, in denen wir zum Glück nicht mehr über steigende, sondern über sinkende Infektionszahlen reden, kommt ein neues Phänomen hinzu. Während die einen sich über die langsame Rückkehr in ein etwas normaleres Leben freuen, warnen andere selbst an einem Tag, an dem in Hamburg keine (!) neuen Infektionen gemeldet werden, vor dem, was da alles noch passieren wird.
Ich nenne es mal das Zweite-Welle-Paradox.
Der Begriff der zweiten Welle ist spätestens seit den ersten Lockerungsmaßnahmen am 20. April fester Bestandteil in den Diskussionen darüber, wie es mit der Corona-Pandemie weitergehen kann. Niemand weiß, ob es eine zweite Welle geben wird und ob im Juni oder doch erst im September oder, eben auch das ist möglich: gar nicht.
Corona-Zahlen so erfreulich wie lange nicht mehr
Trotzdem taucht sie als Horrorszenario ausgerechnet in einer Phase auf, in der die täglich veröffentlichten Corona-Zahlen so erfreulich sind wie lange nicht mehr. Woran liegt das? Einerseits sicher an der deutschen Eigenart, positive Entwicklungen grundsätzlich kritisch zu hinterfragen (um es mal vorsichtig zu sagen). Den Moment, auf unsere eigenen Leistungen stolz zu sein, verpassen wir mit schöner Regelmäßigkeit, leider auch diesmal. Denn tatsächlich sind wir gemeinsam bisher gut durch die Krise gekommen, besser als viele andere Staaten, die uns um unsere Strategie beneiden.
Andererseits muss sich die Angst vor einer zweiten Welle, also dem erneuten Ansteigen der Infektionszahlen, zwangsläufig verstärken, je deutlicher eben diese Zahlen zurückgehen. Wie sich das zuspitzen lässt, konnte man neulich im Internet über einem Text lesen, der sich mit der Corona-Entwicklung in Hamburg beschäftigte. Dort hieß es: „Zahl der Neuinfektionen in Hamburg hat sich verdoppelt.“ Das war nicht falsch, aber trotzdem nur die halbe Wahrheit: Denn die Zahl der Neuinfektionen war an jenem Tag von drei auf sechs gestiegen … Das meine ich, wenn ich von dem Zweite-Welle-Paradox spreche.
„Wir haben es euch ja immer gesagt ...“
Selbst im Verhältnis kleine Steigerungen wirken umso bedrohlicher, wenn sie von einer niedrigen Basis kommen, sind es aber tatsächlich gar nicht. Trotzdem werden die Zweite-Welle-Warner spätestens, wenn es in Hamburg in den nächsten Tagen mal wieder eine zweistellige Zahl (!) an Neuinfektionen geben sollte, feststellen: „Wir haben es euch ja immer gesagt ...“
Hinter einer solchen Einstellung können berechtigte Ängste und Unsicherheiten stecken – aber auch eine weniger starke Betroffenheit von den Kollateralschäden der Krise. Wer nicht in Kurzarbeit ist oder um sein Unternehmen fürchten muss, wer nicht die Kinder zu Hause beschulen und nebenbei in Videokonferenzen sein muss, tut sich leichter, vor Lockerungen zu warnen und mit zweiten Wellen zu drohen.
Notfalls, sagte ein Bekannter neulich zu mir, müssten die Schülerinnen und Schüler in Hamburg halt so lange Fernunterricht erhalten, bis es einen Impfstoff gebe. Und wenn das zwei Jahre dauere, dann dauere es eben zwei Jahre: „Denk nur an die zweite Welle ...“ Ich habe lange darüber nachgedacht, bin am Ende aber nur zu einem Schluss gekommen: Der Bekannte hat einfach nur Glück, dass seine Kinder schon aus dem Haus sind.