Wenn alles auf null gefahren worden ist, bildet die Grammatik nicht mehr den Status wie zu Großvaters Zeiten ab.
Nein, keine Bange, ich habe nicht die Absicht, mich in der sechsten Woche hintereinander über das Coronavirus und seine Folgen auszulassen, obwohl die Pandemie ja durchaus ihre sprachlichen Aspekte hat! Dem Robert[-]Koch-Institut fehlt ein Bindestrich, ein Pathologe gibt ein Interview wegen „dem“ Virus, und die bekannte Boulevard-Zeitung mit den vier Buchstaben im Titel druckt diesen peinlichen Grammatikfehler in einer Spalte gleich mehrmals nach.
Als die Kollegen das Viren-Thema fast leergeschrieben hatten, rückte die weltbewegende Frage in Aufmacher-Nähe, welcher der neuen Ausdrücke in den Duden aufgenommen werden könnte. Die Bezeichnung „Covid-19“ für die Geißel aus Wuhan soll die besten Chancen haben. Wer keine Themen hat, der schafft sich welche. Allerdings ist das Korpus der deutschen Sprache immer noch leichter zu durchschauen als der Korpus des euphemistisch (beschönigend) mit einer Krone (Corona) geschmückten Killer-Virus. Ich bin ziemlich sicher, dass mir der Ausdruck „Killer-Virus“ so heftig um die Ohren geschlagen werden wird, dass der Schaden des besagten Krankheitserregers in der Lunge im Vergleich dazu vernachlässigt („negligiert“) werden kann.
Der eine Virologe ist noch lange nicht der andere Virologe. Lese ich den ersten Artikel, binde ich mir die Gesichtsmaske um, lese ich den zweiten, verbanne ich die Maske mit spitzen Fingern in den Backofen, um sie bei 100 Grad Celsius zu sterilisieren. Wenn alles kaputt, auf null, pleite und verschuldet sein wird, wird man nach den Schuldigen suchen. Mich beschleicht dabei so ein ungutes Gefühl, dass man die auch finden wird – nicht die Chinesen, die Weltgesundheitsorganisation, Frau Merkel oder Herrn Laschet, nicht einmal das Robert-Koch-Institut – mit wie vielen Bindestrichen auch immer –, sondern, wie in solchen Fällen üblich, die Journalisten und die Medien.
Die gemütlichen Zeiten sind auch in dieser Kolumne vorbei. Wie harmlos war es doch vor drei Jahren, als wir wochenlang die Frage zu lösen versuchten, welches Geschlecht dieser Nougataufstrich eigentlich hat. Heißt es „die“ Nutella, „das“ Nutella oder gar „der“ Nutella? Soweit ich mich erinnere, ließ sich das Problem nicht lösen, und ich schlug vor, an jedem Morgen am Frühstückstisch das Geschlecht neu auszuwürfeln.
Wenn wir alles wiederaufbauen müssen, kann die Sprache nicht ungeschoren bleiben. Nur tote Sprachen ruhen in sich selbst; das Deutsche hingegen wandelt sich, nicht nur im Sprachschatz, sondern auch in der Grammatik. Ob neben der Lautlehre (Phonologie), der Formenlehre (Morphologie), der Bedeutung (Semantik) und dem Satzbau (Syntax) auch die Rechtschreibung (Orthografie) zur Grammatik gehört, ist umstritten. Die Rechtschreibung (mit der Zeichensetzung, der Interpunktion) lässt sich nämlich festsetzen und reformieren, während die Grammatik den aktuellen Status der Sprache abbildet. Sprache ist, was zurzeit gesprochen wird, nicht unbedingt das, was zu Großvaters Zeiten gesprochen worden ist. Insofern ist die Grammatik häufig eine Streitfrage unter den Generationen, was sich in meinem Postfach widerspiegelt.
Nehmen wir als Beispiel die Kongruenz im Numerus, das Zusammenpassen der Satzteile nach Singular oder Plural. „Eine Million Hamburger tragen eine Maske“, lautete eine Überschrift. Aufruhr im Netz! „Die Million“ sei Einzahl, also müsse auch das Verb im Singular stehen: Eine Million „trägt“ eine Maske. Beide Formen sind möglich. Wenn wir die große Zahl der Hamburger betonen wollen, wählen wir den Plural.
Stark gefährdet ist auch das Dativ-e (dem Mann[e]) und das Genitiv-s (wegen Umzug[s]). Viele Wörter werden im Singular in der Praxis gar nicht mehr flektiert (gebeugt): dem oder den Präsident, Kandidat oder Student. Dafür bekommen Wörter auf -or eine Endung, die falsch ist: dem Autor (nicht: dem Autoren). Da hat jemand mit der falschen Form „gewunken“, obwohl es grammatisch korrekt „gewinkt“ heißt. Die Rektion, die Zuweisung des korrekten Kasus (Falls), verschludert immer mehr: nahe dem Bahnhof (nicht: des Bahnhofs), der Toten (nicht: den Toten) gedenken. Doch davon ein andermal mehr.
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