Die Infektionszahlen sinken – da darf man doch mal locker sein? Nein, darf man nicht.

Am Elbstrand sitzen die Menschen wie selbstverständlich wieder in Gruppen in der Sonne, in Planten un Blomen umarmen sich Freunde zur Begrüßung, in einer Billstedter Wohnung tanzen 40 junge Leute, und die Polizei muss in der Schanze und auf St. Pauli Hunderte Feiernde trennen und „unzählige Gespräche“ führen, weil die Abstandsregeln nicht eingehalten werden. Die Menschen nähmen die Regeln zur Eindämmung der Pandemie zunehmend „nicht mehr so ernst“, bilanziert die Polizei.

Man könnte auch sagen: Die Hamburgerinnen und Hamburger sind zunehmend coronamüde. Sie sind hungrig nach Normalität, nach sozialen Kontakten, nach Umarmungen. Und sie waren an diesem Frühsommer-Wochenende so fröhlich wie seit Wochen nicht mehr. Und geben ihnen die stetig fallenden Infektionszahlen nicht recht? Nur fünf weitere registrierte Fälle, das ist doch quasi nichts! Und die Krankenhäuser? Sind weiterhin so leer wie noch nie. Ist es nicht an der Zeit, die Lockerungen, die jetzt überall beschlossen werden, zum Anlass zu nehmen, selbst mal ein bisschen lockerer zu werden?

Die Antwort muss leider lauten: nein. Für eine Rückkehr zum Normalleben ist es trotz der positiven Entwicklung einfach zu früh. So schön es auch ist, die Menschen unbeschwerter zu erleben: Wenn wir nicht aufpassen, verspielen wir alles, was wir uns in den vergangenen Wochen mühsam erkämpft haben. Überall in Deutschland gehen derzeit die Menschen mittlerweile auf die Straße, um – ohne auf die Abstandsregeln zu achten – gegen die ihrer Meinung nach zu strengen Corona-Beschränkungen zu demonstrieren. Deren irritierend kurzsichtiges Credo lautet: Man sehe doch jetzt, dass alles nicht so schlimm sei – und dafür wurden die Menschen eingesperrt und die Wirtschaft lahmgelegt?

Doch genau hier liegt das Paradox, das Virologe Drosten (der Morddrohungen bekommt, weil er Menschen vor einer tödlichen Krankheit schützen will) beschrieben hat: Die Menschen halten die Maßnahmen im Nachhinein für überzogen, verkennen aber, dass jene gerade rechtzeitig kamen, um einen steilen Anstieg in Deutschland zu verhindern.

Die aktuell niedrigen Infektionszahlen sind übrigens durchaus ein Grund zum Feiern. Aber eben nicht mit 500 anderen. Auch, weil es unsolidarisch all denen gegenüber ist, die sich weiterhin zurücknehmen und den Schutz aller über das private Vergnügen stellen. Und es ist unverantwortlich gegenüber denen, die zur Risikogruppe gehören und weiter in größter Sorge leben. Bevor also Sechstklässler Corona-ist-vorbei-Übernachtungspartys feiern, wie ein Leser berichtet, sollten wir erst einmal alles daransetzen, dass alle Kinder wieder zur Schule und in die Kita gehen können.

Ob uns die viel beschworene zweite oder gar dritte Welle droht, kann niemand wirklich vorhersagen. Diese aber leichtfertig in Kauf zu nehmen, ist keine Alternative. Auch wenn es für manch einen frustrierend klingt: Solange wir nicht sagen können, wie sich die aktuellen Lockerungen in zwei Wochen auf das Infektionsgeschehen auswirken werden, müssen wir vorsichtig bleiben. Und können uns auch nicht damit herausreden, dass wir ja gar nicht genau wissen, was gerade erlaubt ist und was nicht.

Politiker überbieten sich mit Lockerungen, gucken wir nur nach Schleswig-Holstein – erst darf niemand kommen, jetzt kann der Tourismus nicht schnell genug anlaufen. Es sind Entscheidungen, die die Wirtschaft ebenso berühren wie die Gesundheit der Menschen. Welcher Weg der richtige ist, weiß heute niemand. Was wir aber wissen, ist: Am Ende wird es bei der Bewältigung der Krise auf uns selbst ankommen – auch wenn wir noch so coronamüde sind.