Hamburg. Wird Covid-19 der Menschheit eine Lehre sein? Oder werden die Folgen von Corona schlimmer als Corona selbst?

Fast Forward – so hieß die kleine Zaubertaste auf meinem Kassettenrekorder, mit dem man ungeliebte Songs im Handumdrehen überspringen konnte. Mit dieser Funktion lassen sich auch langatmige Filme zeitsparend und längenüberbrückend vorspulen. Eine solche Taste würden wir uns heute für unser Leben wünschen – Fast Forward, um aus diesem Katas­trophenfilm auszusteigen und schnellstmöglich beim Happy End, kurzum in besseren Tagen, zu landen.

Es ist die Zeit der Zukunftsforscher: „Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn vorbei sein wird und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert“, schreibt der renommierte Zukunftsforscher Matthias Horx in einem viel beachteten Essay. Er macht Mut – und sieht das Positive im Shutdown. „Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele sich erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam“, prophezeit er vom Herbst 2020 betrachtet. „Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeits­räume eröffnen.“

Seine Vision liest sich wie ein Märchen, weil die Welt ruhiger, besonnener, klüger wird. Die AfD verschwindet, Trump wird abgewählt, der CO2-Ausstoß sinkt. „Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?“, fragt Horx. Vielleicht, so der 65-Jährige, sei das Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft.

Viel vorauseilender Optimismus in der Coronakrise

Schön wär’s. Horx steht mit seinem Optimismus nicht allein. Allüberall wird das Hohelied der Digitalisierung angestimmt, alles Wünschenswerte wird in Corona hineingedeutet – das Ende der Globalisierung und des Populismus, das Ende der menschlichen Hybris, des unheilvollen Zeitalters Anthropozän. Unverbesserliche Revolutionäre sehen gar endlich die Chance für den Kommunismus gekommen – und können sich dabei sogar auf Adidas berufen.

Der Konzeptkünstler Peter Weibel frohlockt in der „Neuen Zürcher Zeitung“ über das Ende des Krieges gegen die Natur: „Nun zwingt uns die Natur in Form eines Virus, diesen Krieg zu beenden, die exzessive Massenmobilität zu stoppen, zumindest vorübergehend. Flugzeuge bleiben am Boden, Schiffe im Hafen, Hotels und Geschäfte geschlossen, die Menschen zu Hause eingeschlossen. Dem Globalisierungsballon geht die Luft aus.“

Ökonomischer Analphabetismus floriert in der "Virolo-kratie"

Bei allem Respekt für die Kraft des positiven Denkens: Ganz so einfach dürfte es nicht werden. Aus diesen ganzen mitunter bizarren Zukunftsperspektiven spricht auch ein ökonomischer Analphabetismus, eine volkswirtschaftliche Dyskalkulie. Während die Republik zur „Virolo-kratie“ mutiert, in der nicht mehr die Politik entscheidet, sondern auch Virologen, rutscht der Rest aus dem Blick.

Natürlich zwingt uns Covid-19, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um Leben zu retten. Viele der Maßnahmen waren bitter nötig, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Es geht darum, Zeit zu kaufen – für bessere Intensivkapazitäten, mehr Schutzmaßnahmen und hoffentlich ein Heilmittel und einen Impfstoff.

Die möglichen Toten von morgen und übermorgen im Blick haben

Aber zumindest leise dürfen auch die Folgekosten dieses Kampfes diskutiert und mitgedacht werden. Es muss beunruhigen, dass ausgerechnet Finanzminister Olaf Scholz sagt: „Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft.“ Als ob es darum ginge!

Aber es ist eben auch die Pflicht, die möglichen Toten von morgen und übermorgen im Blick zu haben, wenn die Wirtschaft und dann das Gesundheitssystem Schiffbruch erleiden sollten. Auch da mag es ja Menschen geben, die den Börsencrash feiern und Weltwirtschaftskrisen als Chance für einen Neuanfang sehen. Aber leider ist es nicht so einfach – auch die Abgesänge in der Finanzkrise von 2008/09 waren zu früh angestimmt. Das Leben ging damals rasch weiter – und manchmal gar nicht so anders als zuvor.

Was die Wirtschaftsforscher prognostizieren

Auch wenn das Virus längst Geschichte sein wird, werden seine Folgen unsere Gegenwart prägen. Es sind ja nicht bloße Zahlen, die derzeit aufgrund vieler Unwägbarkeiten sehr unterschiedlich ausfallen: Kommt es so, wie im Basisszenario des Wirtschafts-Sachverständigenrats steht, werden diese Monate bald vielleicht nur als böser Spuk in Erinnerung bleiben: Sie erwarten ein Minus von 2,8 Prozent im laufenden Jahr, aber danach ein Plus von 3,7 Prozent 2021.

Es kann aber auch deutlich schlimmer kommen – so fürchtet der Rat bei längeren Stilllegungen einen Einbruch um 5,4 Prozent. In der vergangenen Woche schockte das ifo-Institut mit einem Worst-Case-Szenario von einem Wirtschaftseinbruch von mehr als 20 Prozent. Das würde eher an 1929 erinnern denn an 2009.

Hinter den Wirtschaftszahlen stecken menschliche Schicksale

Hinter den nackten Zahlen stehen menschliche Schicksale: Unternehmer gehen pleite, Einzelhändler müssen schließen, viele Gastronomen oder Pensionen werden nicht wiedereröffnen, Handwerksbetriebe in die Insolvenz rutschen, Konzerne in Konkurs gehen – und mit ihnen Hunderttausende Beschäftigte. Eine Volkswirtschaft, die bis zuletzt vielen prächtige Chancen bot, wird diese Menschen nicht mehr aufnehmen können.

Viele Selbstständige könnten sich fragen, ob sich ein Neuanfang überhaupt lohnt, manche Arbeitslose aufgeben. Lebenskonzepte werden zu Bruch gehen, Ehen, Kindheiten. Das alles sollte man nicht vergessen, bevor man sich wie der Kolumnist Heribert Prantl über eine „Zwangspause für eine erschöpfte Gesellschaft“ freut. Die Erschöpfung danach könnte ungleich fataler wirken.

Das Gegenteil von Globalisierung heißt Abschottung

Und wer über das Ende der Globalisierung frohlockt, täusche sich nicht. Das Gegenteil lautet Abschottung. Die Europäische Union hat in diesen vergangenen Wochen schon gezeigt, wie schlecht sie funktioniert. Der Gedanke der europäischen Solidarität endete an der nächsten Landesgrenze, schon um Atemmasken und Schutzanzüge begann ein gnadenloser Wettbewerb.

Wenn aber jeder an sich denkt, ist noch lange nicht an alle gedacht: Italien und Spanien fühlen sich nicht ohne Grund im Stich gelassen. „Selbst in dieser Situation, der dramatischsten seit der Gründung der EU, erscheint Europa weit entfernt von den Problemen seiner Bürger: ein bürokratisches Gebilde, unfähig zu konkretem Handeln. Es hat weder Solidarität noch Aufsicht gegeben“, schreibt der stellvertretende Chefredakteur der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ über die dramatische Lage im Land. Und weiter: „Die EU lässt Italien im Stich. Wir merken uns das!“

Nach Corona dürfte die Eurokrise 2.0 kommen

Wer glaubt, das böse Virus vertreibe wie mit Zauberhand die Populisten, wird sich auch bald wundern. Derzeit mag die Stunde der Volksparteien, der Regierenden, der Besonnenen schlagen. Aber wird das so bleiben? In einer fortdauernden Krise werden eher Populisten profitieren, weil sie auch gleich einen Sündenbock der Misere präsentieren. Nach Corona dürfte die Eurokrise 2.0 kommen – die Schulden unterminieren die ohnehin wirtschaftsschwachen Staaten in Südeuropa. Ob der Norden dann zur Hilfe bereit ist? Oder werden auch hier die Populisten dann „Holland zuerst“ oder „Deutschland zuerst“ rufen?

Selbst für die, die sich an Delfinen in der Lagune vor Venedig oder dem blauen Himmel über China erfreuen, müssen ein paar Zähne der Illusion gezogen werden. Je tiefer die Krise, desto rücksichtsloser der Aufschwung. Umweltschutzgesetze werden es bald deutlich schwerer haben, für ökologische Anschubfinanzierungen durch den Staat fehlt dann das Geld, der niedrige Ölpreis wird den Umbau der Energieversorgung verzögern.

Alles aussichtslos? Nein. Aber wir brauchen Solidarität

Ist also alles aussichtslos? Nein. Aber wir sollten beginnen, den Fakten ins Auge zu schauen. Corona ist kein Virus, das die Welt besser macht, sondern eines, das die Welt schlechter machen kann. Dagegen wirkt neben Impfstoffen und Ärzten nur eine besonnene Politik, Weitsicht – und Solidarität. Gerade letztere schien verschüttet und blitzt nun allerorten wieder auf. Beeindruckende Initiativen, Unterstützungsideen und Nachbarschaftsengagement wachsen überall – so exponentiell wie die Zahl der Infizierten: Nur solidarisch wird dieses Land, wird Europa aus der Krise kommen.

Das bedeutet zugleich: Solidarität betrifft alle. Der Aktionär muss im laufenden Jahr trotz seiner hohen Kursverluste auf jede Dividende verzichten – es wäre ja noch schöner, wenn am Ende nicht die Anteilseigner, sondern die Allgemeinheit helfen muss. Eigentum verpflichtet: Wer viel hat, wird mehr geben müssen.

Zeit für einen Perspektivwechsel

Wir werden vielleicht Steuern wie die Mehrwertsteuer erhöhen oder neue Steuern erfinden müssen, um Profiteure der Krise wie Amazon & Co. zu beteiligen. Wir werden – ob mit oder ohne Corona-Bonds – Südeuropa massiv unterstützen müssen. Und wir werden die finanziellen Ansprüche an den Staat zurückfahren müssen: Er ist nicht zum großen Umverteilen da, zum Spendieren von hübschen Überflüssigkeiten oder für immer neue Sozialleistungen, sondern für eine funktionierende Daseinsvorsorge und In­frastruktur: bestens ausgebaute Verkehrsträger, perfekte Schulen und Universitäten, eine florierende Forschungslandschaft, eine lebendige Kulturszene, sehr gute Krankenhäuser und Pflegeheime.

Wie sagte John F. Kennedy vor 59 Jahren: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Damit ist keine Rückkehr zum Nationalismus gemeint, sondern ein wirklich europäisches Denken. Es ist Zeit für einen Perspektivwechsel.

Jeder ist gefordert für die neue Solidarität

Ein jeder ist gefordert für diese neue Solidarität. Der Staat wird in den kommenden Jahren trotzdem nicht schwächer, sondern stärker. Darin liegt auch eine Gefahr. Seine Allmacht muss nach der Krise zurückgedrängt werden. Kurt Kister von der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt zu Recht: „Bei zu viel ,Schutz‘ ist die Freiheit selbst gefährdet.“ Aber vielleicht werden wir die Freiheit mehr zu schätzen wissen, wenn sie zurückkehrt. Und auch wenn wir materiell ärmer werden, müssen wir damit nicht automatisch unglücklicher sein.

Der 93-jährige Italiener Franco Ferrarotti sagt: „Ich glaube, wenn die Krise vorbei ist, werden wir eine enorme Wiederkehr von Lebensfreude und Lust am Wiederaufbau erleben. Ähnlich wie am Ende des Krieges wird es in ganz Europa eine unglaubliche Explosion an Lebensfreude geben.“

Wir schaffen das

Gut möglich, dass dann die Straßencafés voller sind als sie jemals waren, dass jeder Strandspaziergang eine Traumreise wird und dass selbst Heimniederlagen des FC St. Pauli nicht mehr bitter schmecken. Wir müssen nur aufpassen, dass wir aus Angst vor Corona nicht das Fundament dieses Neuanfangs erschüttern. Die Welt wird danach nicht besser, aber vielleicht fühlt sie sich besser an. Wie wusste schon der Psychologe und Philosoph William James: „Große Notfälle und Krisen zeigen uns, um wie viel größer unsere vitalen Ressourcen sind als wir selbst annahmen!“

Die Krise ist groß, aber sie ist nicht unüberwindbar. Oder, um es kurz zu sagen: Wir schaffen das.