Derzeit spielen alle verrückt: Die CDU, Thüringer, Corona-Angst – und natürlich „Sabine“. Ein Land ist im Liveticker-Modus.

Freunde des Weltuntergangs kamen am Sonntag voll auf ihre Kosten: Während draußen ein munterer Wind ging, tobte im Netz ein Orkan. Der „Focus“, als Nachrichtenmagazin gestartet und als Boulevardportal gestrandet, hatte wie so viele andere Medien einen Liveticker zum „Monstersturm“ gestartet.

Die ersten Einträge zeigten schon, dass die Apokalypse naht: „Am Hafen von Husum geht bereits ein merklich kräftiger Wind“, wusste ein Reporter um 12.39 Uhr zu berichten. 74 Minuten später die nächste Armageddon-Nachricht: „An­drea Berg muss Konzert absagen!“ Um 16.27 Uhr wurde es noch schlimmer. „Orkantief ‘Sabine‘ hat im Vogelsbergkreis erste Spuren hinterlassen. Auf Twitter berichtet ein Nutzer von einem umgefallenen Baum. Die Feuerwehr sei bereits vor Ort gewesen. Ein Anwohner habe sein draußen geparktes Auto sicherheitshalber umgestellt.“

Ungefähr so hatte ich mir den Weltuntergang immer vorgestellt.

Im Internet: Wer bremst, verliert

Auch wenn „Sabine“ in der Nacht auffrischte und später durchaus Schäden anrichtete – die mediale Aufbereitung erinnerte eher an einen todbringenden Taifun. Im Internet herrschen seit Langem die brutalen Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie. Wer Hysterie schürt, wird mit Klicks belohnt. Wer am lautesten schreit, bekommt für Sekunden die Aufmerksamkeit. Wer die Irrsten und Wirrsten zitiert, wird weiterverbreitet. Nur wer bremst, verliert. Wer besonnen bleibt, gilt als langweilig. Die Stimme der Vernunft ist nicht ökonomisch.

Längst benehmen sich viele Medien so wie Boulevardzeitungen vor 25 Jahren. Ständig treiben sie eine andere Sau durchs globale Dorf. Das Land scheint an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung zu leiden, und ein ADHS-Journalismus verschärft das Problem. Deutschland, eine hysterische Republik.

Jörg Kachelmann kritisiert Alarmismus

Inzwischen fallen nicht die Warnungen von Hysterikern und Dramatisierern auf, sondern eher die Zwischenrufe der Vernünftigen. Vereinzelt sind sie noch zu hören: Jörg Kachelmann kritisierte am Montagmorgen im Deutschlandfunk einen „Alarmismus“ bei „Sabine“ – und machte dafür die Onlinemedien mitverantwortlich. Da sei es entscheidend, dass geklickt werde. „Deshalb wurde aus einem durchschnittlichen Wintersturm in den letzten Tagen und vor allem gestern ein Monsterorkan.“ Tatsächlich war „Sabine“ alles andere als eine Sensation – gottlob weit weniger schlimm als Lothar (1999) oder Kyrill (2007).

Die Hysterie springt von den Medien längst in die Gesellschaft. Manche sehen in dem Allerweltssturm, der im Schnitt alle zwei Jahre vorbeiweht, einen untrüglichen Beweis für den Klimawandel. Und Unternehmen wie die Deutsche Bahn stellen gleich ihren Betrieb komplett ein; drolligerweise hat auch der Vorstandschef Richard Lutz seinen Termin beim Club der Wirtschaftsjournalisten am Montagabend in Hamburg abgesagt: „Aufgrund der bundesweiten Auswirkungen des Sturms auf den Bahnverkehr ist der Termin unseres Chefs bei Ihnen leider nicht zu halten.“

Der Bahnchef sagt einen Termin in Hamburg ab

Vielleicht sollte man beim nächsten Mal den Vorstand der Schweizer oder der französischen Bahn einladen: Die fuhren trotz mancher Behinderungen weiter. Ging es bei der Deutschen Bahn am Ende darum, die eigene Unfähigkeit zu kaschieren, ausreichend Personal und Ressourcen zur Verfügung zu stellen? Man weiß es nicht. Die Frage kommt in den Livetickern aber auch nicht vor. Zusammenhänge, Analogien und Analysen sind in diesem Format nicht vorgesehen.

Die Livetickerisierung hat die gesamte Republik erfasst. Was im Sport ein geeignetes Mittel ist, um in Echtzeit über den Verlauf eines Fußballspiels zu berichten, gilt inzwischen auch in der Politik oder sogar in der Wissenschaft als passendes Format – die Leser verlangen geradezu danach. Dummerweise informieren diese Liveticker die Menschen nicht, sie verstopfen die Nachrichtenkanäle auch und zunehmend mit irrelevanten Wasserstandsmeldungen.

Am Ende wird eine 1:2-Niederlage, um im Bild zu bleiben, nicht dadurch zum Sieg, weil die unterlegene Mannschaft in der 20. Minute das Führungstor schoss.

Wer taugt zur Krawallschachtel?

Was hat die Thüringer Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten durch CDU und AfD – ein staatspolitisch brisanter Vorgang – mit einem Fußballspiel zu tun? Welche Zusammenhänge können noch vermittelt werden, wenn ein Beitrag nicht länger sein darf als ein paar Zeilen? Und wer schafft es in die Tickermeldungen? Die Besonnenen oder die Schreihälse?

Kein Ticker wollte auf das schöne Bild verzichten, wie die Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow dem Wahlgewinner Thomas Kemmerich die Blumen vor die Füße wirft. Susanne wer? Nun, die Linkenchefin ist Erstunterzeichnerin des Aufrufes „Für eine antikapitalistische Linke“, eine Parteiströmung, die das Bundesamt für Verfassungsschutz für linksextremistisch hält.

Solche interessanten Zusammenhänge gehen verloren, weil gleich die nächste Meldung ansteht. Jeder Halbpromi, der irgendeinen Parteinamen im Twitteraccount führt, wird zitiert, wenn er oder sie als Krawallschachtel taugt. Der Liveticker erklärt nichts, er plappert nur nach – und mit jedem Eintrag wird die Lautstärke weiter aufgedreht. Schließlich gelten auch hier die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie. So spitzen sich Ereignisse zu.

"Ein Hauch von Weimar" – eine falsche Analogie

Aus der Thüringer Wahl, die ein unschönes Ergebnis brachte, entwickelte sich eine Staatskrise. Mancher, der die Weimarer Verhältnisse im Geschichtsunterricht gestreift hatte, sah gleich Adolf Hitler in Erfurt aufmarschieren. Es sind die Klugen und Besonnenen, die noch gegenhalten. „Es ist absurd, ständig den Untergang der Weimarer Republik zu beschwören“, sagte der Historiker Heinrich-August Winkler der „Welt am Sonntag“. „Das, was in Erfurt geschehen ist, ist alarmierend genug. Aber mit falschen Analogien wird die gegenwärtige Situation der deutschen Demokratie in ein völlig falsches Licht gerückt.“

Viel lieber und häufiger wird hingegen der 87-jährige Gerhart Baum zitiert, der vor bald 40 Jahren mal FDP-Innenminister war. Er konstatierte: „Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik.“ Wer aber ständig warnt, läuft Gefahr, irgendwann nicht mehr gehört oder ernst genommen zu werden – etwa dann, wenn es wirklich gefährlich wird. Wer ständig von Weimar liest und hört, arrangiert sich am Ende damit. Die Aufgeregtheit, ob im Liveticker oder anderswo, macht die Sache nicht besser. Deutschland, eine hysterischen Republik.

Der Sündenfall der Demokraten

So schlimm wie die Wahl von Kemmerich sind längst die Reaktionen darauf. In Hamburg etwa wird die FDP zur Zielscheibe von Antifaschisten. Am Freitag riefen Grüne, Linkspartei und Jusos gemeinsam mit Linksextremisten zu Protestaktionen auf und zogen von den Bürgerschaftsbüros der CDU- und AfD-Fraktion zur Parteizentrale der FDP. „Ihre Zusammenarbeit mit Faschist*innen darf nicht konsequenzenlos bleiben“, heißt es in dem Aufruf.

Das haben manche wohl zu wörtlich genommen: Nach dem Protestzug wurden Plakate beschmiert und zerstört. Nur zur Erinnerung: Die Hamburger CDU und FDP hatten sich sofort klar gegen den Thüringer Sündenfall gestellt. Der nächste Sündenfall aber ist, wenn Demokraten in ihrer Wut andere Demokraten ins Visier nehmen. Früher war die AfD böse, jetzt sind es auch die „Nazi-Freunde“ der FDP und CDU? „Es hat Vandalismus gegen Einrichtungen, Bedrohungen und Übergriffe im gesamten Bundesgebiet gegeben“, hieß es aus der FDP-Zen­trale in Berlin.

Ein mittelschweres Beben in einem der kleinsten Bundesländen schaukelt sich immer weiter hoch. Deutschland, eine hysterische Republik.

Mitgliederbefragung bei der CDU?

Am Montagvormittag spülte es schließlich die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer aus dem Amt. Sofort meldeten sich alle zu Wort, die in der Sache eigentlich wenig zu sagen haben. Aber die Liveticker reproduzieren das Halbgare und Viertelfertige: Der unvermeidliche Sigmar Gabriel etwa, der allgegenwärtige Meinungsforscher und -macher Manfred Güllner von Forsa, die Gaulands und Kippings dieser Welt – und die Werteunion in der CDU, die mehr Interviewanfragen als Mitglieder hat.

Sie schlägt eine Mitgliederbefragung zur Klärung der Nachfolge vor. Das hat bei der SPD ja auch schon super funktioniert. Deutschland, eine hysterische Republik. Immerhin: Als der politische Orkan in Berlin losbrach, flaute der Sturm über Deutschland sofort ab.

Als Thüringen noch rot-rot-grün schien und „Sabine“ weit weg, schreckten uns nicht Weimar oder ein Orkan, sondern die Apokalypse hieß Corona. Das Virus, das in China zweifellos schlimme Folgen zeitigt, wird hierzulande – na klar – auch mit einem Liveticker verarztet. Zwar gibt es in der Republik nur 14 Infektionen, die bislang alle milde verlaufen, aber das vermag das Land kaum zu beruhigen.

Corona? 50 Menschen an Grippe gestorben

„Von den 90, die nach Deutschland geholt werden und als infiziert gelten könnten, müsste statistisch gesehen einer sterben“, sagte ein TV-Arzt kürzlich in der Talkshow von Maybritt Illner. Im ZDF darf ein Arzt mit YouTube-Kanal auf Augenhöhe mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn diskutieren. Wenn der CDU-Politiker zu Recht anmerkt, 50 Menschen seien in diesem Jahr bereits an Grippe gestorben, ist das für den TV-Arzt natürlich kein Argument. Die Lage könne schnell kippen, orakelt er. Und viele Zuschauer denken am Ende wahrscheinlich, Spahn verharmlost. Deutschland, eine hysterische Republik.

Aufgrund des großen Interesses laufen die Corona-Liveticker vorerst ungerührt weiter. Was in der chinesische Provinz Wuhan passiert, die bis Weihnachten noch so weit entfernt lag wie die Rückseite der Mondes, interessiert nun so brennend, als sei Hubei ein Stadtteil von Hamburg.

Ein Blick in den Liveticker von RTL zeigt die katastrophale Lage. Am Montag um 7:21 Uhr erfährt der Leser: „Situation auf Kreuzfahrtschiff verschärft sich“, um 10.03 Uhr ist die Lage dort „angespannt“: Die Passagiere „dürfen ihre Kabinen nicht verlassen und bekommen zu wenige Informationen“. Die wirklich relevante News bekommt keine eigene Überschrift: Die Zahl der Neu-Infizierten steigt nicht mehr so stark an wie in den letzten Tagen. Solche Nachrichten passen eben nicht ins Bild, sie könnten die Aufmerksamkeit drosseln.

Überdruss, Sensationsgier und Lust am Untergang

Sollten Außerirdische unsere Debatten verfolgen und dann in Deutschland landen, sie würden sich nicht nur am falschen Ort, sondern im falschen Film wähnen. Rage und Realität stimmen nicht überein. Die Welt ist eine andere als die in Hollywood: Die Corona-Krise hält sich nicht ans Drehbuch des Schockers „Outbreak“, die Wahl in Thüringen ist keine Fortsetzung von „Babylon Berlin“, die Krise der CDU keine neue Folge von „House of Cards“, und Sabine hat mit „Twister“ so viel zu tun wie das Sandmännchen mit einem Horrorfilm.

Im Publikum aber blicken manche mit einer Mischung aus Überdruss, Sensationsgier und einer fatalen Lust am Untergang auf das Weltgeschehen. Vielleicht halten sie das, was da draußen geschieht, auch nicht mehr für die Wirklichkeit, sondern für eine Erzählung, mit der sie nichts zu tun haben. In Zeiten, in denen das Virtuelle wichtiger wird, wird das Wichtige für viele virtuell. Auf dem Sofa vor dem Riesenbildschirm oder in sozialen Netzwerken auf dem Mobiltelefon wirkt die Welt seltsam entrückt. Twitter-Meldungen und Nachrichten-Splitter in Newstickern werden die Kartoffelchips zum Katastrophenfilm in Dauerschleife.

Deutschland ist eine hysterische Republik. Wer aber ständig aufgeregt ist, verliert irgendwann den Verstand.