Der Abschied Großbritanniens aus der EU ist eine historische Zäsur. Den größten Brexit-Schaden tragen die Briten selbst.

Auch bei den größten Bewunderern des Vereinigten Königreiches hat das Brexit-Drama nach fast vier Jahren seine Spuren hinterlassen: Wenn Großbritannien in der Nacht zum Sonnabend den mehrmals verschobenen Austritt aus der Europäischen Union endlich wahr macht, nehmen die Kontinentaleuropäer dies überwiegend mit einer Mischung aus Erleichterung und einem letzten, müden Kopfschütteln zur Kenntnis.

Aber es ist wie im richtigen Leben: Sind die Briten erst einmal gegangen, ist die Hoffnung auf ihre rasche Rückkehr verblasst, wird der Trennungsschmerz auch auf dem Kontinent bald einsetzen.

Brexit hat ökonomische Wucht

Der Abschied Großbritanniens bleibt für das vereinte Europa ein schlimmer, tragischer Verlust – politisch, wirtschaftlich, kulturell. Er hat ökonomisch dieselbe Wucht, als wenn die 19 kleinsten der 28 EU-Staaten gleichzeitig den Club verlassen würden. Für die geostrategischen Ambitionen der EU ist diese Schrumpfung ein Rückschlag, der nicht dadurch ausgeglichen wird, dass die Briten in der Union allzu oft die Bremserrolle gespielt haben.

Das Selbstbewusstsein der EU, die seit ihrer Gründung immer nur auf Erweiterung und engeren Zusammenschluss angelegt war, ist nachhaltig erschüttert.

Briten haben den Brexit noch nicht richtig verstanden

Den größten Schaden indes tragen die Briten selbst, die überwiegend noch gar nicht verstanden haben, was der Brexit konkret bedeuten wird. Die Austritts-Propagandisten haben die nostalgische Illusion genährt, mit dem Brexit lasse sich an den alten Glanz des verlorenen Empires anknüpfen. Sie haben den Bürgern vorgegaukelt, man werde weiter die Vorteile des EU-Binnenmarktes genießen, dabei aber völlig unabhängig von der Union sein.

Als „Singapur an der Themse“ mit niedrigen Steuern soll sich das Land Wettbewerbsvorsprünge sichern. All diese Verheißungen werden jetzt schnell als Lügen, Luftschlösser und Hirngespinste entlarvt werden.

Auch der EU droht Ärger

Großbritannien wird in der globalisierten Welt allein nicht stärker, sondern schwächer sein. Und die Europäische Union kann nicht einem Konkurrenten großzügig Zugang zum gemeinsamen Markt gewähren, wenn der sich gleichzeitig mit Standarddumping und Regelverstößen unredlich Vorteile verschaffen will. Bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union über einen neuen Handelsvertrag und andere Kooperationsabkommen droht deshalb ein heftiger Streit, dem gegenüber die bisherigen Konflikte ein Vorgeplänkel gewesen sein könnten.

Und auf der Insel steht ein böses Erwachen bevor, das den Riss durch die Gesellschaft noch vertiefen und die Fliehkräfte im Königreich verstärken wird. Viel wäre gewonnen, wenn Premier Johnson wenigstens die bis Dezember befristete Übergangszeit verlängert – denn bis Jahresende sind solide Verträge auch bei bester Absicht gar nicht auszuhandeln.

Oder gibt es eine positive Überraschung?

Hilfreich wäre es aber auch, wenn die Europäische Union der Neigung widerstehen könnte, die Briten für die Scheidung zu bestrafen und zur Abschreckung potenzieller Nachahmer so zu tun, als könne man London ein Verhandlungsergebnis diktieren. Das wäre Gift für die offiziell angestrebte freundschaftliche Beziehung, an der auch die Europäische Union ein großes Interesse haben müsste. Nicht nur aus ökonomischen oder sicherheitspolitischen Gründen, sondern schlicht, weil Großbritannien ja weiter zu Europa gehört.

Die Chancen für einen harmonischen Neustart stehen derzeit nicht gut. Aber wer weiß: Im Brexit-Drama waren bisher schon Wendungen möglich, die niemand erwartet hatte. Dass EU und Großbritannien zügig zu einer frucht­baren Partnerschaft finden, wäre mal eine positive Überraschung.