Gefährlicher Überdruss: Die Große Koalition ist besser als ihr Ruf – und Politik eben keine Netflix-Serie.
Wir leben in Zeiten des Weltuntergangs. Die Ökobewegung Extinction Rebellion schwadroniert vom baldigen Aussterben der Menschheit aufgrund des Klimawandels, während Industrievertreter schon vom „Ruin“ der deutschen Wirtschaft warnen. Fakten spielen keine große Rolle mehr: Die Industrieproduktion schwächelt zwar, ist aber zuletzt wieder gewachsen; die Erderwärmung ist dramatisch, aber nicht apokalyptisch. Wir haben uns angewöhnt, Probleme in die Zukunft fortzuschreiben, das Schlimmste vorauszusetzen und daraus den Untergang abzuleiten. Wir sind hysterisch geworden.
Diese Hysterie hat nun auch die Bundespolitik erfasst: Der Ausgang der Landtagswahl in Thüringen, wo am Sonntag 2,7 Prozent der Bundesbürger zur Wahl aufgerufen waren, hat die Parteien in Aufruhr gestürzt. Nun sollte man das Ergebnis, das die Mitte erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik marginalisiert hat, nicht kleinreden. Wenn AfD und Linkspartei mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen, läuft etwas grundsätzlich schief. Man darf das Problem aber auch nicht dramatisieren: Die AfD mit ihren 23,4 Prozent und ihrer Führerfigur Björn Höcke hat, wenn auch nur leicht, schlechter abgeschnitten als ihre rechten Parteifreunde bei den letzten Wahlen in Brandenburg und Sachsen. Und der Triumph der Linkspartei in Thüringen ist sicher nicht die Sehnsucht nach dem verblichenen Mauerstaat, sondern die Anerkennung für einen moderaten wie überparteilichen Regierungskurs von Ministerpräsident Bodo Ramelow. Auch das gehört zur Wahrheit.
Der anschwellende Untergangsgesang zur Großen Koalition mit dramatischem Live-Ticker aus den Parteizentralen klingt arg schrill. Sicherlich ist zu konstatieren, dass dieses Zweckbündnis kein gutes Bild abgibt: Der auf offener diplomatischer Bühne ausgetragene Streit über die Syrien-Politik zwischen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Außenminister Heiko Maas (SPD) war so überflüssig wie peinlich; angesichts der Konjunktureintrübung vermisst nicht nur die Wirtschaft einen Reformelan, und in den öffentlichen Auftritten fehlt Esprit und Gestaltungswille.
Andererseits aber weiß man nicht, was zuerst da war: die dem Bündnis innewohnende Unzufriedenheit oder die negative Stimmung in Medien und Gesellschaft. Es gibt einen Überdruss an dieser Koalition, der längst ein unfaires Ausmaß angenommen hat: So katastrophal schlecht, wie manche die Große Koalition machen, ist sie nicht. Union und SPD gehen einen Weg der Kompromisse – und Kompromisse sind der Königsweg der Demokratie. Als die Große Koalition ihr Klimapaket geschnürt hatte, wurde es zerpflückt, bevor überhaupt Einzelheiten bekannt waren. Manche wollen offenbar nicht verstehen, dass die Politik einen auf wirtschaftliche Stärke errichteten Sozialstaat nicht binnen Monaten umbauen kann. Es ist schick geworden, auch ohne Argumente die Kanzlerin und ihre Partei wie den Finanzminister und seine Partei bescheuert zu finden. Offenbar vergleichen manche den Bundestag mit der Serie „House of Cards“ und Politik mit einer Seifenoper; sie erwarten
Action und einen Cliffhanger am Ende der „Tagesschau“ und sind gelangweilt, wenn die Koalition sich nicht mit einem Knall auflöst, sondern Kompromisse findet. Nach 14 Jahren Merkel gibt es zudem einen Überdruss an der Kanzlerin – das ist menschlich verständlich, aber inhaltlich ein dürftiges Argument.
Bei aller berechtigten Kritik an der Großen Koalition würde helfen, einmal den Blick ins Ausland zu richten, etwa nach Großbritannien oder in die USA. Boris Johnson und Donald Trump mögen unterhaltsamer sein – als Vorbild taugen sie nicht.