Okay, liebe Investmentbanker, wenn Augenringe das neue Statussymbol sind – von mir aus. Ich kenne etwas Besseres.

Jeden Mittwoch stehe ich spätestens um 6.15 Uhr auf – ja, für diese Leistung habe ich wahrlich keinen Applaus verdient. Auch wenn ich insgeheim jeden Morgen darauf hoffe, auf dem beschwerlichen Weg vom Bett in Richtung Badezimmer angefeuert zu werden. Für 90 Prozent von Ihnen, liebe Leser, gehört frühes Aufstehen vermutlich zum Alltag dazu. Besonders für junge Eltern, Krankenpfleger oder Bäcker fühlt es sich eher wie Ausschlafen an, wenn die Nacht um 6 Uhr endet. Doch für Medienmenschen wie mich, die in der Regel bummelig gegen 9.30 Uhr im Büro eintrudeln, stellt die Uhrzeit eine Herausforderung dar.

Grund für meinen Schlafverzicht ist übrigens diese Kolumne. Meistens setze ich mich bereits zu Hause an den Laptop, sammle meine Gedanken und verfasse die ersten Zeilen (so wie jetzt gerade). In die Texte stecke ich unheimlich viel Liebe – und Zeit, die mir im normalen Redaktionsalltag häufig fehlt. Deswegen komme ich jeden Mittwoch wie nach einer durchzechten Partynacht mit tiefen Augenringen in die Redaktion. Okay, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber Schlaf ist mir halt heilig.

Für mich gibt es kaum etwas Schöneres, als nach einem anstrengenden Tag ins Bett zu fallen, mich in die dicke Daunendecke zu wickeln, ein gutes Buch zu lesen und dann ins Schlummerland zu verschwinden. Schon immer wollte ich ein Plädoyer für mein liebstes Hobby schreiben. „Eine Nacht darüber zu schlafen“ ist für mich kein dämlicher Ratschlag, sondern die Lösung für viele knifflige Entscheidungen.

Das ist sogar wissenschaftlich bewiesen: Die besten Ideen kommen uns, wenn das Gehirn nicht so viel zu tun hat. So wie beim Schlafen. Dann kann Gelerntes und Erlebtes besonders gut verknüpft werden – und das ist die perfekte Grundlage, um Entscheidungen zu treffen. Laut Schlafmedizinern sind sechs Stunden Schlaf pro Nacht Minimum, um dauerhaft leistungsfähig zu sein.

Schon als Kind habe ich das Träumen geliebt. Wenn mich meine Eltern auf Geburtstagspartys mitgenommen haben und ich müde wurde, konnten sie einfach zwei Stühle zusammenschieben und mich neben der Musikbox parken – ich habe geschlummert wie ein Murmeltier. Wenn ich mich im Tiefschlaf befinde, ein göttliches Geschenk, könnten Einbrecher meine komplette Wohnung leer räumen und mich samt dem Bett nach draußen tragen, ich würde es wahrscheinlich nicht bemerken. Das ist keine Einladung!

Aber ich muss alle Langschläfer enttäuschen: Unsere Liebe zum Ausschlafen ist verpönt. Heute gilt: Wer lange schläft, verpasst das Leben, ist faul, undiszipliniert und antriebslos. Schlafen ist was für Loser. Auch junge Leute legen offenbar keinen Wert mehr darauf und ziehen sich lieber die halbe Nacht Netflix-Serien rein. Wer hingegen früh aufsteht, gilt als zielstrebig und motiviert. Augenringe sind das neue Statussymbol eines jeden Investmentbankers, Schlafmangel steht für Erfolg – und der macht bekanntlich sexy.

Gerade in Zeiten, in denen der Wunsch wächst, sich ständig selbst zu optimieren, schöner, klüger, reicher zu werden, ist ein regelrechter Hype um das Frühaufstehen entstanden. Der Tag muss von Anfang bis Ende optimal genutzt werden. Menschen joggen bereits vor der Arbeit eine Runde um die Alster, schmeißen zwei Waschmaschinen an und meditieren. Für sie ist Schlaf ein lästiger Pflichttermin. Ich bin eher diejenige, die sich ihr Frühstücksbrot in der Bahn in den Mund stopft, weil sie mal wieder bis zur letzten Sekunde die Zeit im Bett ausgekostet hat. Mit gutem Recht: Stress raubt uns schon oft genug den Schlaf. Wir müssen uns die kostbare Zeit nicht zusätzlich von einem schlechten Gewissen vermiesen lassen.

Wozu Übermüdung führen kann, hat unsere schwarz-rote Koalition in der vergangenen Woche eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nach einer durchgemachten Nacht präsentierte die Regierung der Presse Deutschlands neue Klimastrategie. Beim Fernsehinterview mit dem „heute journal“ konnte Olaf Scholz kaum noch seine Augen aufhalten. Mit letzter Kraft verteidigte er das verhandelte Verlegenheitspaket. Das bewies wieder einmal, dass es helfen kann, noch einmal eine Nacht über seine Entscheidungen zu schlafen.