Die Abiturienten hätten es gern leichter. Wie wäre es trotz der Dominanz des Mündlichen ab und zu mit einem Diktat?

Mehrere Tausend Schüler aus verschiedenen Bundesländern, auch aus Hamburg, haben im Internet gegen die Abiturprüfung in Mathematik protestiert. Die Aufgaben seien zu schwer gewesen und in ihrer Art im Unterricht gar nicht behandelt worden. Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, ist anderer Meinung. Ich kann das nicht entscheiden, gebe aber zu, dass ich heute nach fast 60 Jahren meine Mathe-Abiturarbeit über sphärische Trigonometrie, Integral- und Vektorrechnung nicht mehr bewältigen könnte. Seinerzeit schafften wir es, was unter Umständen auch daran gelegen haben mag, dass wir den Freitagmorgen im Unterricht und nicht auf der Straße zubrachten.

Meine damalige Eins im Deutschaufsatz könnte ich wohl wiederholen, wobei ich Goethes Text jetzt bestimmt nüchterner interpretieren würde und nicht in die Versuchung geriete, eine spätpubertäre Fortsetzung des „Werther“ zu verfassen. Trotz aller Schwärmerei gab es auf anderem Gebiet eine harte Realität: bei der Grammatik und der Rechtschreibung samt Interpunktion. Drei schlimme Deutschfehler im Abitur führten zur Fünf. Ich fürchte, auf diesem Gebiet hat sich einiges geändert.

Der Verfasser ist Sprachautor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Kolumne erscheint dienstags.
Der Verfasser ist Sprachautor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Kolumne erscheint dienstags. © HA | Klaus Bodig

Frau Bachmayer ist eine Lehrerin, die gar nicht Bachmayer heißt, aber auf bild.de pseudonym häufiger Interna aus ihrem Berufsleben darbietet, die lustig klingen, aber alarmierend sind. Auf einem Elternabend forderten die Eltern, wieder benotete Diktate schreiben zu lassen. Frau Bachmayer hielt nichts davon, versuchte es am nächsten Tag aber mit einem Übungsdiktat in der Klasse. Das ging schief. Die Kinder waren so überfordert, dass im Hintergrund schon die Drohung mit der Schulbehörde und dem Jugendamt stand. Frau Bachmayer brach das Experiment ab und ließ die Schüler an deren eigenen Aufsätzen üben.

Ein Aufsatz hat gegenüber einem Diktat den Vorteil, dass man Wörter, die man nicht schreiben kann, vermeidet. Da jedoch die Möglichkeit besteht, in Zukunft insoweit eine lebensfähige Umwelt vorzufinden, dass Kira doch noch ihren Lebensunterhalt verdienen muss, frage ich mich, was sie als Sekretärin ohne Rechtschreibkenntnisse machen will. Nehmen wir einmal an, sie soll den Speiseplan der Kantine für die kommende Woche tippen, weiß aber nicht, wie man „Currywurst mit Pommes frites und Mayonnaise“ schreibt, und setzt dafür „Erbsensuppe mit Speck“ ein, die sie zwar nicht mag, aber buchstabieren kann. Sie wird den Job nicht lange behalten.

Vor einiger Zeit ging eine Meldung durch die Medien, dass das Bundeskriminalamt von 120 Stellen nur 62 besetzen konnte. Der Grund: Die Bewerberinnen und Bewerber für die Kommissar-Laufbahn waren trotz Abiturs durch den Deutschtest gefallen. In dem Test ging es um Kenntnisse in Rechtschreibung, Grammatik, Wortschatz und Sprachverständnis. Bei der Polizei der Länder hört man ähnliche Klagen. Können die jungen Menschen heute nicht mehr richtig schreiben? Die Universitäten bemängeln, dass den Erstsemestern trotz guter Noten im Reifezeugnis die Grundlagenkompetenzen in der Sprache fehlen. Liegt das an den Schülern oder an der Schule?

Liegt das an den Politikern, liegt das an den Lehrern, die mehr Ideologen als Pädagogen sind? Rainer Werner forderte kürzlich in der „FAZ“ „Es ist Zeit für eine Schreiboffensive“: „In der Schule drückt sich die Dominanz der gesellschaftlichen Redekultur im starken Gewicht des Mündlichen aus. In der Sekundarstufe I zählt in allen Fächern die mündliche Mitarbeit zur Hälfte, in den Grundkursen der gymnasialen Oberstufe zu zwei Dritteln. Die in allen Bundesländern eingeführte 5. Prüfungskomponente des Abiturs, eine Präsentationsprüfung, besteht zumeist nur aus einer mündlichen Leistung.

Nur wenige Bundesländer verlangen zusätzlich noch eine Facharbeit. Die meisten Gymnasiasten punkten im Mündlichen: Sie sind eloquent und verfügen über einen differenzierten Wortschatz. Die Noten fallen entsprechend gut aus. Liest man hingegen von Schülern verfasste Texte, stellt man fest, dass ihre Qualität deutlich hinter der Qualität ihrer mündlichen Beiträge zurückbleibt.“

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