„Ach Europa“, so seufzte einst Deutschlands großer Denker Hans Magnus Enzensberger. „Ach Europa“, möchte man dieser Tage laut rufen. Dieser großartige Kontinent schafft es wieder einmal, ohne Not in schwere See zu navigieren. Und die Europäische Union, dieses großartige Friedensprojekt, schadet sich selbst, ohne es zu wollen. Dabei hatte es die EU-Kommission gut gemeint, als sie im vergangenen Sommer eine große Internet-Umfrage über die Sommerzeit wagte: Man wollte bürgernah sein, modern, populär. Und nebenbei die vielen Negativnachrichten aus Europa vergessen machen. Doch das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Die Online-Umfrage zur Zeitumstellung hat das Zeug, als EU-Desaster in die Geschichte einzugehen: Viele Bürger werden sie für unwichtig gehalten, andere sie überhaupt nicht wahrgenommen haben. Sie ist überhaupt nicht repräsentativ für Europa – weder für das Stimmungsbild auf dem Kontinent noch für die einzelnen Länder. Von den rund 4,6 Millionen Teilnehmern kamen drei Millionen Menschen aus Deutschland. Der Kontinent, der sonst zu Recht die kleinen Staaten besonders in den Blick nimmt, wird von einer deutschen Wutwelle überrollt. Hierzulande nahmen 3,8 Prozent der Bürger teil; in Italien hingegen nur 0,04 Prozent. Niemand ahnte, dass diese Abstimmung verbindlich sein würde – und schon die Anmeldung war so kompliziert, dass man ziemliche Aversionen gegen die Zeitumstellung mitbringen musste, um sich durch die Registrierung zu klicken.
In Deutschland war diese Wut offenbar ziemlich groß, da wurde seiten- wie stundenlang in manchen Medien über psychische und physische Erkrankungen, Einschlafprobleme, Schlafstörungen berichtet. Seltsam nur, dass die zweimalige Umstellung ein Volk krank machen soll, das als Reiseweltmeister viel schlimmere Zeitumstellungen binnen weniger Tage sonst sehr souverän meistert. Bevor Europa eine ergebnisoffene Diskussion führen konnte, stand die Entscheidung schon fest. Es zeigt die ganze Verunsicherung der Kommission und der Parlamentarier, wenn eine nicht repräsentative Online-Umfrage Grundlage ihres Handelns wird. Es fehlt die Kraft, ein überhastetes Vorgehen zu hinterfragen und ein falsches Votum zu überstimmen, weil man fürchtet, dann als entrückt und volksfern beschimpft zu werden.
Damit droht das Unheil seinen Lauf zu nehmen: Europa könnte ab 2021 ein Flickenteppich der Zeitzonen werden, in dem jedes Land seine eigene Sommerzeit einführt – oder nicht. Die Briten beispielsweise haben schon erklärt, an der Zeitumstellung festhalten zu wollen. Europa lebt aber von Symbolen: von einer einheitlichen Währung, vom Wegfall der Grenzkontrollen. Was wäre das für ein Zeichen, wenn Europa nun in neue Zeitzonen zerfiele? Obendrein schickt sich die Kommission an, Probleme zu lösen, die es ohne das irrige Nein zur Sommerzeit gar nicht gäbe. Wenn es im Winter länger dunkler bleibt, so die bizarre Logik der Kommissarin, müsse die Schule später beginnen. Soll der komplette Tagesrhythmus einer Gesellschaft radikal umgekrempelt werden, weil die Umstellung in einer März- und einer Oktobernacht unzumutbar ist?
Es ist kafkaesk. Europa steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die Briten sind auf dem Absprung – warum machen wir ihnen kein neues Angebot, zu bleiben? Die USA und China setzen immer mehr auf Konfrontation, wie einig tritt Europa ihnen entgegen? Mitglieder wie Polen oder Ungarn ignorieren zunehmend die gemeinsamen Spielregeln, wann redet die Kommission Tacheles?
Stattdessen diskutieren wir über die Sommerzeit. Ach Europa!