… dann bildet sie keine Raute, sondern ein Deltoid. Es gibt Leute unter uns, die verderben jede Stimmung

Ich kann nicht zaubern und will nicht zaubern, deshalb darf ich mich auch nicht mit Goethes Zauberlehrling vergleichen, der den Besen, den er rief, schließlich nicht mehr zu bändigen in der Lage war. Ich rufe keine Besen aus der Ecke hervor, sondern schreibe ganz brav einiges über die deutsche Sprache, das unter Umständen nicht jeder weiß, aber jeder ohne Scheu rekapitulieren und wissen sollte. Was ich hervorrufe, ist, teils gewollt, teils ungewollt, eine Flut von Leserpost, über die ich mich sehr freue und die mich die Woche über zu beschäftigen vermag. Es ist immer schön für einen Autor zu erfahren, dass seine Kolumne gelesen wird und Inter­­esse erweckt.

Der Verfasser ist „Wortschatz“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprachkolumne erscheint dienstags
Der Verfasser ist „Wortschatz“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprachkolumne erscheint dienstags © HA | Klaus Bodig

Ich danke für Hinweise und Anregungen, beantworte möglichst alle Fragen zu meinen Texten und manchmal notgedrungen auch zu fremden Texten, erkläre die Schreibweise eines Wortes, die der Einsender viel schneller selbst im Duden nachschlagen könnte, und passe erst, wenn ich Lothar Matthäus Sprachunterricht geben oder privatissime ein Oberstufenreferat über die Stellung des finiten Verbs in einem Kausalsatz liefern soll. Doch unter den vielen Mails, in denen der Wert der „Deutschstunde“ so gelobt wird, dass ich trotz meines Alters beim Lesen ab und zu ein wenig rot werde (im Gesicht), gibt es immer drei oder vier, deren Schreibern es augenscheinlich nicht um den Inhalt, sondern um reine Besserwisserei geht.

Ich hatte mir vor einer Woche den Spaß erlaubt zu bemerken, dass Annegret Kramp-Karrenbauer erst dann eine vollwertige CDU-Vorsitzende sein werde, wenn sie wie ihre Vorgängerin Angela Merkel die „Fingerraute“ perfekt beherrsche. Diese Handhaltung mit Zeigefinger an Zeigefinger und Daumen an Daumen ist so typisch für unsere Bundeskanzlerin, dass eine dreispaltige Abbildung nur ihrer Hände jedes Porträt ersetzt. Alle Welt spricht dann von der „Fingerraute“ oder der „Merkel-Raute“.

Nicht so einige Einsender, die mich, obwohl ich diese Bezeichnungen ja gar nicht erfunden, sondern nur übernommen hatte, mit einer Nachhilfestunde in der ebenen Geometrie der Vierecke überzogen. Ich werde schon misstrauisch, wenn eine Mail beginnt: „Ich, 86, habe früher in der Schule gelernt“ und dann wortwörtlich der Text aus der Wikipedia folgt. Um es kurz zu machen: Was Frau Merkel mit Daumen und Zeigefingern zustande bringe, sei keine Raute. Eine Raute besitze vier gleich lange Seiten, der merkelsche Daumen und der merkelsche Zeigefinger seien hingegen verschieden lang und könnten demnach nicht zu einer Raute geformt werden. Das Gebilde, das die Bundeskanzlerin vor ihrem Bauch zelebriere, sei vielmehr ein Deltoid, vulgo auch Drachenviereck genannt, und zwar ein Viereck aus zwei Paaren gleich langer benachbarter Seiten, von denen ein Paar einen überstumpfen Winkel bilde. Ansonsten, wurde ich belehrt, sei eine Raute ein Sonderfall des Parallelogramms und ein Quadrat der Sonderfall einer Raute, was Frau Merkel anatomisch aber nicht darstellen könne. Aha, so genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen! Ich habe mich artig für die Belehrung und vor allem dafür bedankt, dass mir der Beweis der rechtwinkligen Stellung der Diagonalen sowohl bei der Raute als auch beim Drachenviereck erspart geblieben ist.

Wissen Sie, warum Sixtus Beckmesser in Wagners „Meistersingern“ seine angebetete Eva an Walther von Stolzing verloren hat? Er verbiss sich zu sehr ins Detail und sah das große Ganze und die Schönheit der deutschen Sprache nicht. Einen Beckmesser pro Woche lasse ich mir gefallen, aber diesmal waren es ein paar zu viel. Wir bleiben bei der „Fingerraute“ und wollen Angela Merkel nicht bedrängen, sich in der Weihnachtspause die Daumen strecken und die Finger kürzen zu lassen.

Apropos Weihnachtspause: Wegen der kommenden auf einen Dienstag fallenden Feiertage lesen Sie, sofern ich dann noch in Form sein werde, die nächste „Deutschstunde“ erst am 8. Januar. Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest und einen guten Rutsch ins neue Jahr – und falls Sie Kummer oder Sorgen haben sollten, versuchen Sie es wie Frau Merkel mit der Fingerraute. Die erzeugt eine Sammlung in sich selbst.

deutschstunde@t-online.de