Schon vor dem Anpfiff am Sonntag haben die HSV-Fans und St.-Pauli-Anhänger eine große Chance verpasst.

Unruhige Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. So gesehen war es durchaus bemerkenswert, was da der harte Kern der HSV- und St.-Pauli-Anhänger am 1. September gemeinsam auf die Beine stellte. Um 22 Uhr trafen sich die eigentlich verfeindeten Fanlager beider Seiten auf der Treppe an der Hamburger Kunsthalle, um ihre Rivalität für ein paar Minuten und den gemeinsamen Zweck zu vergessen. Anlass der einmaligen Aktion war der sogenannte „Tag der deutschen Patrioten“, an dem rechte Demonstranten aufmarschieren wollten.

Auf einem Banner stand nun an der Kunsthalle „In Hamburg seid ihr nicht willkommen“, auf einem anderen „Kein Mensch ist illegal“. Dann drehten die Ultras der beiden Clubs noch ein kleines Internetvideo mit einer großen Botschaft: „Nazis raus!“, schrien sie gemeinsam in die Kamera. HSV-Fans und St.-Pauli-Anhänger – in den Farben getrennt, aber in der Sache vereint.

Eine schöne kleine Geschichte, die dummerweise nur einen großen Schönheitsfehler hat: Denn die gemeinsame Aktion war nicht am 1. September 2018, also eine knappe Woche nach dem rechtsradikalen Aufmarsch, den hochgereckten Hitlergrüßen und den eingeschmissenen Schaufenstern eines jüdischen Ladens in Chemnitz. Sondern bereits vor drei Jahren. Am 1. September 2015.

Im Hier und Jetzt, vor dem ersten Derby seit sieben Jahren an diesem Sonntag, ist mit einem vergleichbaren Zeichen nicht zu rechnen. Ganz im Gegenteil. Während immer mehr Menschen in Deutschland den demokratischen Konsens aufgekündigt haben, sind St. Paulis Möchtegern-Fans und die überwiegend jugendlichen Halbstarken vom HSV seit Wochen mit infantilen Ränkespiel-
chen beschäftigt.

Hier wird eine Gruppe von HSV-Ultras überfallen, die in einer Lagerhalle an einer großen Derby-Choreo bastelt. Dort werden Strohpuppen im St.-Pauli-Look aufgeknöpft und symbolisch an Brücken erhängt. Die Liste der kleinen und großen Zwischenfälle in den vergangenen Wochen ist lang, doch den Chaoten an dieser Stelle eine Plattform zu geben und alles zu dokumentieren macht keinen Sinn.

Vor dem Derby am Sonntag einfach nur zu schweigen macht aber auch keinen Sinn. Denn die zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzungen der beiden Fanlager sind doppelt und dreifach unverständlich und längst auch unerträglich, wenn man sich den sozialisationstheoretischen Hintergrund beider Fangruppen vergegenwärtigt.

Der FC St. Pauli ist links, der HSV rechts. So war es früher – und so ist es schon lange nicht mehr. Längst wurden die Braunen aus der blau-weiß-schwarzen Kurve verbannt (hierzu mehr im Magazin der Sonnabendausgabe). Politisch sind sich die Ultras beider Vereine bereits seit Jahren einig: Rassisten und Nazis haben am Millerntor und im Volkspark nichts zu suchen.

Bravo, möchte man sagen. Sagt man aber nicht. Denn statt die einmalige Chance des Derbys an diesem Sonntag zu nutzen, ein ähnlich starkes Zeichen wie vor drei Jahren zu setzen, hat sich der Fanmob diesmal dazu entschieden, sich auf seine Kindergartenspielchen mit optionaler Gewalt zu konzentrieren.

So bleiben am Ende der Woche des Derby-Vorgeplänkels nur zwei denkbare Szenarien. Entweder es wird krachen. Auf dem Kiez, in der Nacht, auf dem Weg zum Stadion am Sonntag, auf dem Weg zurück, im schlimmsten Fall sogar im Stadion. Oder die Armee aus Polizei und Sicherheitsleuten bekommt die Fan-Meute an diesem Wochenende in den Griff, und als „normaler“ Hamburger kann man kann sich für 90 Minuten auf das konzentrieren, was das Derby eigentlich ist: ein Fußballspiel.

Die Chance auf Szenario Nummer drei wurde derweil verpasst: dass Ultras des HSV und des FC St. Pauli eine echte, wahrnehmbare und starke Botschaft in dieses unruhige Land aussenden. Und dass man sich dann umso mehr auf dieses einzigartige und großartige Fußballspiel freut.