Die Vorrunde ist vorbei, und die erste Zwischenbilanz steht fest: Doofe WM! Zu viel 1:0 und 0:1, zu viel Tunesien, Marokko und Saudi-Arabien und zu wenig Neymar-Magie. Zu viel isländisches Abwehrbollwerk und zu wenige Lewandowski-Tore. Zu viel Ronaldo-Egoismus, zu viel Fifa und zu viel Putin-Propaganda, aber zu wenige Messi-Momente.

Und dann auch noch die Deutschen, die in allen zur Verfügung stehenden Kategorien zu viel enttäuschten oder viel zu wenig abgeliefert haben. Das naheliegende Zwischenfazit dieser Vorrunde: schlimm, das alles.

So kann man das natürlich sehen. Oder eben auch nicht.

Die WM ist viel mehr als bloß Deutschland

Denn vergisst man für einen kurzen Moment einmal den deutschen Blick auf das Turnier, könnte man tatsächlich zu einer sehr viel wohlmeinenderen Zwischenbilanz kommen. 116 Treffer in 44 Spielen bis zum Donnerstag bedeuten einen sehr ordentlichen Toreschnitt von 2,63. Doch viel wichtiger als die nackten Zahlen und Fakten waren in den ersten zwei Turnierwochen die Momente: Russlands Explosion der Gefühle nach dem 5:0-Sieg im Eröffnungsspiel. Die magische Nacht von Sotschi mit dem 3:3 zwischen Spanien und Ronaldo. Islands tapfere Krieger und die heroischen Kroaten (jeweils gegen Argentinien).

Die am Boden liegenden Argentinier, die noch einmal wie Phönix aus der Asche gegen Nigeria auferstanden. Neymars Tränen nach seinem Tor in der fünften Minute der Nachspielzeit gegen Fußballzwerg Costa Rica, Coutinhos Zauberfuß und Paulinhos Fußspitze. Mexikos taktisches Meisterwerk gegen einen konsternierten Löw, Toni Kroos’ später Schuss ins kurze Glück gegen Schweden und Heung-min Sons Sprint zur größten Sensation dieser WM. Die belgischen Tormaschinen um Romelu Lukaku. Englands herausragender Torjäger Harry Kane. Und die tanzenden Senegalesen.

Die WM fängt jetzt erst richtig an

Tempo, Technik und Taktik dieser WM begeistern. Nicht alle mutmaßlichen Favoriten, aber die Zuschauer, die sich darüber freuen dürfen, dass nahezu jedes Spiel Überraschungspotenzial bietet. So überraschten die Russen am meisten die Russen und die giftigen Kroaten die ganze Welt. Ganz Panama feierte seinen Ehrentreffer – und ganz Afrika die Wiederauferstehung Senegals. Mohamed Salahs (bedeutungsloses) Tor gegen Saudi-Arabien war ein Gedicht – genauso wie Ronaldos (bedeutungsschwerer) Freistoßtreffer gegen Spanien. Nigerias Ahmed Musa hat sich im Spiel gegen Island selbst getoppt. Und auch John ­Stones Kopfballtor gehört in jeden WM-Rückblick.

Fast alle Topfavoriten (Brasilien, Argentinien, Spanien, Frankreich und Deutschland) stolperten – doch lediglich die DFB-Auswahl blieb liegen. Und so liegt es in der Natur der Sache, dass nach dem epischen Aus des Weltmeisters folgende Wahrheit kaum noch einer hören mag: Aber die Weltmeisterschaft fängt jetzt erst richtig an.

Argentinien gegen Frankreich: ein Blockbuster

Einen Tag Pause gönnt uns die Fifa, ehe am Wochenende die K.-o.-Phase beginnt. Und gleich der erste Achtelfinaltag hat es in sich: erst der Blockbuster zwischen Argentinien und Frankreich, dann das Duell zwischen Ronaldo (Portugal) und Luis Suarez (Uruguay).

Wen nach dem Deutschland-Drama der WM-Blues befällt, der könnte einiges verpassen. Zum Beispiel den Süd-Mittelamerika-Gipfel zwischen Brasilien und Mexiko am Montag in Samara. Und natürlich die Spanier, Kroaten, Belgier und Engländer. Eine mögliche Neuauflage des EM-Finales zwischen Portugal und Frankreich oder einen Kampf der (Fußball-)Kulturen zwischen Spanien und Kroatien im Viertelfinale.

Fußballerisch ist diese Weltmeisterschaft möglicherweise nicht besser als das Turnier in Brasilien vor vier Jahren. Schlechter aber auch nicht. Denn selbstverständlich gibt es Fußball zum Abgewöhnen wie den schlappen Auftritt der ach so starken Franzosen gegen Dänemark (0:0). Aber derartige Zapping-Spiele, wo man direkt die Fernbedienung in die Hand nehmen möchte, blieben die Ausnahme. In diesem Sinne weiter viel Spaß: Der Weltmeister ist tot. Doch es lebe die Weltmeisterschaft!