Der Hamburger Journalist Elmar Schnitzer über die tragische Lebensgeschichte seiner Eltern, die mit einer Scheidung begann und einer Schreckensnachricht endete.

Die Jahre geben der Zeit eine andere Geschwindigkeit. Sie enteilt mir. Aber je schneller ich ihr in das Morgen folge, je näher kommt das Gestern, die Zeit meiner Kindertage. Die Gruft des Vergessens öffnet sich, vieles von dem, was war, wird lebendig, viel Unverstandenes verständlich. Ein Mensch steht im Zen­trum von allem, meine Mutter. Gedanken zum Muttertag.

Ich lebte mit meiner Mutter in einem katholischen Städtchen an einem Fluss im tiefen Süden Deutschlands. Ein mittelalterliches Idyll, dessen malerische Sanftheit die Abgründe dahinter mühelos übertünchte. Jeder im Ort kannte jeden, und jeder wusste etwas über den anderen zu sagen, bevorzugt Schlechtes. Die Kirche bestimmte die Menschen und ihr Leben, Bösartigkeit schien ihnen Befreiung zu sein von der Dornenkrone aus Bigotterie und Scheinheiligkeit. Das größte Gebäude im Ort war der Dom. Sein Schatten fiel in nahezu jedes der spitzgiebeligen Bürgerhäuschen. Das kleinste Gebäude war die evangelische Kirche. Armselig wie ein Amselnest am Dach eines Herrenhauses klebte sie an der Seitenmauer des Doms. Evangelische waren Lutherische, Ketzer. Ehefrauen, die ihren Männern nicht untertan waren, wurden als Hexen beschimpft, Frauen, die sich scheiden ließen, als Huren verdammt.

"Bastard" nannte man solche Kinder

Meine Mutter war evangelisch. Und eine Geschiedene. Sie hat ihren Ehemann für einen anderen verlassen. Und bekam ein Kind von ihm. Bankert oder Bastard nannten die Menschen im Städtchen solche Kinder und hießen die ihren, sie zu meiden. Als wollte ihnen meine Mutter dafür ins Gesicht lachen, gebar sie mich am Tag von Christi Geburt, am 24. Dezember 1949, in einem katholischen Geburtshaus. Als eine Nonne mich ihr in den Arm legte, war meine Mutter 44 Jahre alt. In diesem Alter bekam eine Frau kein Kind mehr. In diesem Alter trug sie Dutt und Dunkel, ging mit gesenktem Kopf und betete sonntags im Gottesdienst für ihr Seelenheil.

Meinen Vater kenne ich nur von Fotos. Sie zeigen einen Mann, der zur Krawatte amerikanische Hemden mit Button-Down-Kragen und, im Sommer, Anzüge mit kurzen Hosen trug. Vor allem aber zeigen sie einen schwer stolzen Papa neben einem semmelblonden Winzling, der in einer Blechwanne planscht. Gefangen in der Erinnerung muss ich achtsam sein, dass nicht zum Kitsch gerät, welche Tragik aus dieser Liebe erwuchs: Meiner Mutter Mut zur Trennung vom ungeliebten Ehemann und ihr offenes Bekenntnis zum geliebten anderen Mann und dem gemeinsamen Sohn ließen aus einer geachteten Geschäftsfrau eine Geächtete werden. Sie erstarkte daran. Erlebte die Liebe als eine noch gewaltigere Kraft, als das Atom es ist. Ihr Strahlenschild schützte sie vor Niedertracht.

Sie hatte versprochen, meinem Vater zu folgen

Mein Vater war Inbild all dessen, was auch meine Mutter bestimmte. Geist und Lebensfreude, Mut und Tatkraft. Und die schiere Freude am Sein.

Der Zufall hatte den Schweizer und die Schwäbin zueinandergeführt. Aber in dem Städtchen am Fluss war kein Platz für einen wie ihn, einen „Ausländer“. Das Bleigrau der frühen Adenauer-Jahre übertünchte das tiefe Braun der Nazi-Jahre nur oberflächlich.

Bis das Meer trennte, was die Liebe vereint hatte. Mein Vater ging als Manager eines Autokonzerns nach Montreal. Am 15. Januar 1952 legte das Passagierschiff in Hamburg ab, das ihn 5750 Kilometer über den Ozean trug. Ein Foto aus dem Nachlass meiner Mutter zeigt sie vor dem weißen Bauch des Ozeanriesen, der ihr entriss, was sie für immer hatte festhalten wollen. Sie hatte versprochen, meinem Vater über den Ozean zu folgen. Obwohl sie wusste, dass sie ihm nicht folgen wird. Die Sorge um mich und die Fürsorge um den Verbleib ihrer infolge eines Unfalls körperlich und geistig behinderten Schwester, die sie betreute, hielten sie dort zurück, wo sie Persona non grata geworden war.

Es ist so leicht, Ja, und so schwer, Nein zu sagen

Briefe, zwei jede Woche, mit Füller beidseitig auf extra dünnem, hellblauem Luftpostpapier geschrieben, verbanden das Leben meiner Eltern, waren Boten ihrer Sehnsüchte und Quell ihrer Kraft. Sieben schier endlose Jahre lang. Dann, eines Nachmittags im Frühling, brachte ein Fuhrwerk, gezogen von zwei braunen Kaltblütern, zwei schwere schwarze Überseekoffer. Vaters Koffer. Er wollte mit dem Flugzeug folgen.

Meine Mutter war beseelt

Die Zeit des Wartens gerann zur Ewigkeit, das Ende zu einem Schock, der sie niederwarf: Statt meines Vaters kam ein Umschlag mit Trauerrand. Ein Hirnschlag hatte meinen Vater auf dem Flughafen in Montreal gefällt, so, wie ein Blitz einen Baum fällt. Unerwartet und binnen Sekunden. Er traf ihn an dem Tag, an dem er, getragen von vier Propellern, zu der Frau heimkehren wollte, die er auf dem Seeweg verlassen hatte.

Die Zeit stand still. Meine Mutter erhob sich eine Woche nicht mehr aus ihrem Bett. Sie aß nicht und trank kaum. Ständige Dunkelheit umgab sie. Die Vorhänge blieben auch den Tag über geschlossen. Die Dunkelheit ist das Reich der Schmerzen. In diesen Tagen und Nächten ist meine Mutter gestorben. Das Sterben vor dem Tod ist die schlimmste Form des Todes.

Ihr Pflichtbewusstsein ließ sie physisch überleben. Aber sie war nicht mehr die Frau, die sie gewesen war. Selbst eine Nonne lebt weniger entsagungsvoll, als meine Mutter fortan lebte. Ihr Lächeln war erloschen, ihre Fröhlichkeit versiegt, ihr Ja zum Leben verstummt.

Arbeit bestimmte ihre Tage. Morgens um 7 verließ sie das Haus, abends um 8 kehrte sie heim. Sie gab mir Geborgenheit, beschützte und bewahrte mich. Sie war hinter mir, wenn ich Freiheit brauchte, und neben mir, wenn ich Hilfe benötigte. Sie hielt sich abseits, als ich die Brücke vom Jungen zum jungen Mann überquerte, und gab mir Flügel, als ich erwachsen wurde. Bei meiner Hochzeit erstrahlte sie, erstmals nach endlosen Jahren. Meine Frau würde die Frau an ihrer Stelle sein. Das spürte sie. Die Geburt unserer Tochter hat sie nicht mehr erlebt. Kaum 68 Jahre alt, starb meine Mutter. Sie hatte Krebs, und sie hatte es mir verschwiegen. Eine Operation hätte sie nicht retten, ihr aber mehr Leben schenken können. Sie sagte Nein. Auch das blieb ihr Geheimnis. Als der Tod an einem Sonntagmittag an ihr Krankenbett kam und ihr Gesicht mit seiner schummrigen Lampe erhellte, lächelte meine Mutter. Ihre Aufgabe auf Erden war erfüllt. Nun konnte sie meinem Vater folgen. Und wollte es auch.

Im Paradies meiner Erinnerung wird dieses Lächeln niemals erlöschen.