Nicht mal absteigen können sie, hieß es bisher über den HSV – jetzt gilt es, sich auf den Ernstfall vorzubereiten.

Seit Tagen läuft in meinem Kopf ein Spielfilm in Dauerschleife ab – mit und ohne Happy End. Er beginnt mit der Anfahrt zum Volksparkstadion am Sonnabend. Endspielstimmung schon auf der Straße, Hupkonzert. Ohrenbetäubender Lärm, als der Bus mit den Spielern vorfährt. Natürlich singt auch Lotto King Karl vor dem Anpfiff, Gänsehaut, wie immer in den ganzen Jahren. Die Fans singen sich ihre Angst vor dem Absturz einfach weg. Die Unterstützung von den Rängen – famos.

Zeitsprung. 17.20 Uhr, Abpfiff. In der ersten Version liegen sich die Menschen in den Armen, wie vor einem Jahr, nach der Last-Minute-Rettung durch Luca Waldschmidt gegen Wolfsburg. In der zweiten Version herrscht Totenstille auf dem Platz und den Rängen, wenn der HSV – was wahrscheinlicher ist – doch den Gang in die Zweite Liga antreten muss. Oder drehen einige Anhänger durch und werden aggressiv? Keine Ahnung. Niemand weiß, wie es sich anfühlt, mit dem HSV abzusteigen.

In den vergangenen 20 Jahren haben die HSV-Fans und auch ich als Reporter viele Entscheidungsspiele um den Klassenerhalt erlebt. Wie 1998, als Anthony Yeboah in der 90. Minute das 2:1-Siegtor gegen Werder Bremen glückte und Trainer Frank Pagelsdorf am Spielfeldrand weinte. Wie 2007, als dem Tabellenletzten HSV am 21. Spieltag unter Huub Stevens der erste Heimsieg der Saison gelang (3:0 gegen Dortmund) – es war der Start für eine unglaubliche Aufholjagd.

Wer damals glaubte, es gehe nicht nervenaufreibender, wurde bekanntlich eines Besseren belehrt. Trotz der fünf Niederlagen in Folge am Saisonende zog der HSV 2014 in die Relegationsspiele gegen Fürth ein. „Nicht mal absteigen können sie“, hieß es nach dem 0:0 und 1:1. Wer damals in Franken dabei war, wird die dramatischen Szenen vor dem Spielende nie vergessen, genauso wenig wie die Rettung ein Jahr später in Karlsruhe – mit dem Freistoßtor durch Marcelo Diaz in der Nachspielzeit.

Ein legendärer Treffer, den ich damals leider nicht live gesehen habe. Längst befand ich mich auf dem Weg in die Mixed Zone, die Partie schien verloren. Nun galt es, eine gute Position zu ergattern, um von den Spielern die ersten Emotionen nach dem erstmaligen Abstieg aus der Bundesliga einfangen zu können. Unten angekommen, liefen Karlsruher Betreuer aufgeregt umher, die ersten Korken knallten, die Aufstiegs-T-Shirts für die Spieler wurden bereitgelegt. Doch plötzlich war da diese dumpfe Geräusch, das bis in die Katakomben des Wildparkstadions hallte. Es klang wie ein Jubel, nicht stark genug, um von 25.000 Menschen erzeugt zu werden, eher von 2500. Der HSV hat doch nicht ein Tor ...?

Doch, hatte er. Sekunden später fingen die Karlsruher in den Gängen an zu schimpfen und zu jammern. Auch das unvergessen, die Reaktion auf das Diaz-Tor live gehört zu haben.

Und 2018? Nicht erst seit dem nicht gegebenen Treffer von Ito in Frankfurt glauben viele, den HSV habe nun auch das Glück früherer Zeiten verlassen, und außerdem sei der Abstieg der Hamburger längst verdient – was er auch ist, sollte der HSV auch nach dem 34. Spieltag auf dem vorletzten Tabellenplatz stehen.

Genauso verdient wäre es aber, sollte sich der HSV auf der letzten Rille noch in die Relegation retten. Die Voraussetzung dafür ist, dass sich sowohl Spieler als auch HSV-Fans nicht von möglichen Rückschlägen während des Endspiels gegen Mönchengladbach entmutigen lassen. Aufgeben gibt’s nicht, das sollte das Motto für die womöglich letzten 90 Bundesliga-Minuten des HSV nach 55 Jahren Bundesliga sein.

Es gibt immer eine letzte Chance, und der HSV ist immer für eine Überraschung gut – siehe Karlsruhe.

Und falls es den Club am Ende doch erwischt: Sich voller Trauer, aber mit Anstand aus der Liga zu verabschieden, könnte dem Club nicht nur verloren gegangene Sympathiepunkte einbringen, es könnte vor allem ein Startschuss sein. Hinfallen, aufstehen, weitermachen. Daran sollten auch alle Zuschauer denken, wenn sie die Spieler um 17.20 Uhr aus der Bundesliga verabschieden müssen.