Der rot-grüne Vorstoß für höhere Löhne ist richtig – auch gesellschaftspolitisch

Die Stimmung im Rathaus dürfte prächtig sein heute Abend. Beim traditionellen „Mai-Empfang“ des Senats geht es zwar offiziell darum, dass Bürgermeister Peter Tschentscher „Vertretern der Gewerkschaften sowie Betriebs- und Personalräten für ihre geleistete Arbeit“ dankt, wie es in der Einladung heißt – doch er wird im Gegenzug seinerseits wohl reichlich Zuspruch erfahren.

Denn mit seinem Plädoyer für einen städtischen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde, den die rot-grüne Koalition nun sehr schnell in die Tat umsetzen will, spricht der Bürgermeister den Gewerkschaften aus dem Herzen. Dass dieser Vorstoß kurz vor dem 1. Mai, dem Feiertag der Arbeiterbewegung, erfolgt, verbunden mit dem sehr sportlichen Ziel, den Mindestlohn noch in dieser Legislaturperiode einführen zu wollen, hat mit Zufall in etwa so viel zu tun wie die Abstiegsnöte des HSV.

Der Autor ist Abendblatt-Reporter des Ressorts Landespolitik
Der Autor ist Abendblatt-Reporter des Ressorts Landespolitik © HA | Klaus Bodig

Natürlich blicken Tschentscher und seine Genossen bereits auf die Wahl Anfang 2020. Da geht es zum einen um den Schulterschluss zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, zum anderen um konkrete Entscheidungen, die möglichst noch vor dem Urnengang ihre positive Wirkung entfalten sollen.

Indes: Das ist nicht verwerflich, und es macht die Einführung eines Hamburger Mindestlohns nicht falsch. Ganz im Gegenteil: Es ist die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt.

Die Zahlen sprechen ja für sich: Wer den bisherigen Mindestlohn von 8,84 Euro in der Stunde erhält und in Vollzeit arbeitet, hat am Monatsende 1400 Euro – brutto, vor Abzug von Steuern und Sozialabgaben. Damit kann vielleicht ein genügsamer Single in einer kleinen Einzimmerwohnung mit Müh und Not über die Runden kommen. Aber Wohnraum für zwei oder mehr Personen lässt sich davon nicht bezahlen, eine Familie ernähren schon gar nicht, erst recht nicht in einer teuren Großstadt wie Hamburg.

Anders formuliert: Wer 40 Stunden in der Woche dem Knochenjob als Gebäudereiniger für eine städtische Firma nachgeht, muss seiner Familie dennoch eingestehen: Sorry, zum Leben langt’s leider nicht. Was für eine erniedrigende, schreiende Ungerechtigkeit! Ein Mindestlohn von zwölf Euro – entspricht etwa 1900 Euro brutto – bedeutet für den Einzelnen zwar keinen Aufstieg ins Schlaraffenland, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, von dem auch die Allgemeinheit profitiert.

Vielfach wird dieser Tage die Frage gestellt, warum eigentlich so viele Deutsche unzufrieden sind, wo die Konjunktur doch brummt, wir fast Vollbeschäftigung und Haushaltsüberschüsse haben. Neben den diffusen Verlustängsten einer breiten Mittelschicht gibt es eine weitere schlichte Antwort darauf: Weil zu viele Menschen von ihrem Job nicht leben können. Das schafft Frust, Ärger, Wut auf andere, die mehr haben, und das macht empfänglich für radikale Kräfte, die diesen Ärger zum eigenen Nutzen schüren, ohne Lösungen anzubieten.

Der damalige Bürgermeister Olaf Scholz hatte als einer der Ersten erkannt, welch gesellschaftspolitischer Sprengstoff in dieser Frage liegt. Sein Nachfolger Peter Tschentscher zieht jetzt für Hamburg die richtigen Schlüsse daraus. Damit davon aber nicht nur die städtisch Beschäftigten profitieren, ist wiederum Scholz am Zug: Als Bundesfinanzminister sollte er sich dafür einsetzen, dass der Mindestlohn auch bundesweit erhöht wird.