Neue Gefahren brauchen neue Antworten. Und keinen übertriebenen Datenschutz. Behörden müssen entschlossener vorgehen dürfen.

Der Gottesdienst zu Weihnachten, der Glühwein auf dem Rathausmarkt, die U-Bahn-Fahrt in die Stadt, der Bummel über die Einkaufsmeile – viele Menschen, großes Gedränge und Sicherheitsvorkehrungen, die in Wirklichkeit keine sind. Spätestens seit dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vor einem Jahr wissen wir, dass wir nahezu jederzeit und nahezu überall angreifbar sind.

Spätestens seit dem Amoklauf von Barmbek wissen wir, dass es keiner selbst gebastelter Bomben bedarf, um Menschen zu töten, sondern dass ein Messer aus dem Supermarkt reicht, ist der Täter nur skrupellos genug oder hat sich in einen Wahn gesteigert. Auch zutiefst fanatische Islamisten haben erkannt, dass sie mit einem individuellen Dschihad viel leichter durch die Maschen der Sicherheitsbehörden schlüpfen können als ein Netzwerk, das sich in seiner Terrorplanung erst abstimmen muss.

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Der Autor ist Mitglied der Abendblatt-Chefredaktion © HA | Michael Rauhe

Trotz dieses Wissens um die eigene Verwundbarkeit ist es richtig, die volle Kirche zu besuchen und den Weihnachtsmarkt, mit der Bahn zu fahren oder über den Jungfernstieg zu bummeln. Wer das nicht mehr tut aus Angst vor einem möglichen Anschlag, ergibt sich dem Terror.

Der Verfassungsschutz geht von etwa 10.000 Salafisten bundesweit aus – und von etwa 1700 fanatischen Dschihadisten. Die Zahl steigt kontinuierlich. Was vor ein paar Jahren noch als Hirngespinste von Geheimdienstlern abgetan wurde, ist längst Realität geworden: dass hier aufgewachsene und scheinbar sozialisierte Jugendliche in den „Heiligen Krieg“ ziehen, dass im Dschihad noch weiter verrohte junge Erwachsene zurückkehren, dass Islamisten bei uns mit Alltagsgegenständen Terroranschläge verüben.

Jeder Anschlag zeigt eine neue Schwachstelle

Asymmetrische Bedrohung nennen Sicherheitsexperten die Fehlentwicklung – auf die wir in Teilen noch immer mit den Mitteln und Bedenken einer anderen Zeit antworten. „Auf asymmetrische Bedrohung reagiert man nicht mit Bürokratie“, hat der BKA-Präsident gesagt. Und auch nicht mit übertriebenem Datenschutz, möchte man ergänzen. Die Polizei darf Hinweise auf sich radikalisierende Hamburger nicht im System speichern, solange es nur einen Verdacht gibt, aber keinen Gesetzesverstoß. Aber oft sind es kleine Hinweise, die hier und dort auflaufen, die aber erst zusammengeführt werden müssen, um die tatsächliche Gefahr der schleichenden Radikalisierung zu erkennen.

Nächster Punkt: Messenger-Dienste, die auch die eher losen Netzwerke radikaler Islamisten nutzen, sind immer besser verschlüsselt – klassische Überwachung funktioniert schon aus technischen Gründen nicht mehr. Und die Spionagesoftware des BKA, der „Bundestrojaner“, darf zur Gefahrenabwehr nicht eingesetzt werden. Oder der Verfassungsschutz: Der darf zwar früher loslegen als der Staatsschutz und auch ohne konkrete Gefahr Informationen sammeln, dem Datenaustausch sind aber ganz enge Grenzen gesetzt. Was nützen gesammelte Informationen, die wegen des Datenschutzes zu spät an die Polizei weitergegeben werden? Oder an die Sozialbehörde, die die Präventionsarbeit verantwortet?

Jeder Anschlag zeigt eine neue Schwachstelle im Sicherheitssystem, die man hinterher zu beseitigen versucht: Der Attentäter von Berlin war den Behörden bekannt, aber die machten gravierende Fehler; die Risikobewertung des Amokläufers von Hamburg war falsch mit furchtbaren Folgen. Die Liste ließe sich fortsetzen. „Der Rechtsstaat muss akzeptieren, dass nicht alle Daten der Bürger vorrätig gehalten werden können, nur um einer Gefährdung weit im Voraus zu begegnen.“ Dieser Satz stammt vom Datenschutzbeauftragten. Aber muss er deshalb stimmen und weiter gelten?