Ein Mann mit zwei künstlichen Hüften will Nachfolger des Box-Idols werden. Warum darin eine Chance liegt.

Das Glück, Max Schmeling persönlich zu treffen, hatte ich leider nicht. Deshalb kann ich nicht beurteilen, ob diejenigen richtigliegen, die behaupten, dass Deutschlands 2005 verstorbenes Box-Idol im Grabe rotieren würde angesichts dessen, was an diesem Sonnabend passiert. In Oberhausen hat mit dem Kölner Manuel Charr (33) ein Mann die Chance, erster deutscher Schwergewichts-Champion seit Schmeling zu werden, der vor 16 Monaten das letzte Mal im Ring stand, weil ihm im Sommer zwei künstliche Hüften eingesetzt werden mussten. Ein Mann, der gegen die drei Weltklassegegner, die er in 34 Profikämpfen hatte, deutlich verlor und der die Titelchance nur erhält, weil mehrere in der Rangliste des Weltverbands WBA vor ihm platzierte Kämpfer des Dopings überführt wurden.

Man muss also verstehen, dass es Menschen gibt, die Charrs Duell mit dem 40 Jahre alten Durchschnitts-Russen Alexander Ustinow als Farce abtun. Überhaupt die WBA: Mit der Politik, über dem regulären Weltmeister noch einen Superchampion zu führen, hat das in Panama ansässige Unternehmen ein Chaos geschaffen, das in dieser Zeitung schon 2009 unter der Überschrift „Weltverband auf Geisterfahrt“ hart kritisiert wurde. Deshalb aber, wie es kürzlich der „Spiegel“ in einer recht einseitigen Generalabrechnung tat, das gesamte Profiboxen als „Freakshow“ abzustempeln ist so falsch wie ungerecht.

Faktisch richtig ist, dass der professionelle Faustkampf aktuell ein tiefes Tal durchschreitet. Der Ausstieg der öffentlich-rechtlichen TV-Sender ARD und ZDF, die über viele Jahre die großen Profiställe Sauerland (Berlin/ARD bis 2014) und Universum (Hamburg/ZDF bis 2010) mit Millionen aufpumpten, hat dazu geführt, dass große Kämpfe in Deutschland kaum noch finanzierbar und die großen Stars entsprechend kaum bezahlbar sind. Diese Folgen spürt man nun.

Das Profiboxen war allerdings immer schon eine große Show, die auch die Halbwelt anzog. Als die Scheinwerfer der großen Sender die Szenerie ausleuchteten, verzogen sich viele dunkle Gestalten zwar in die Schmuddelecken, aus denen sie nun aber wieder verstärkt auftauchen. Falsch indes ist, den Ausstieg von ARD und ZDF als Beleg für den K. o. des Boxsports anzuführen. Vielmehr waren die Öffentlich-Rechtlichen mindestens mitschuldig daran, dass die besten Boxer aus deutschen Ställen nicht gegeneinander kämpften, weil man sich aus Eitelkeit nicht einig wurde, wer das übertragen dürfe. Und sie trugen auf der fieberhaften Suche nach einem neuen deutschen Superhelden als Ersatz für Henry Maske und Axel Schulz entscheidend dazu bei, mit völlig überdimensionierten Investitionen Durchschnittsware zu Hochglanz-Events hochzustilisieren.

Viel Geld hilft nicht immer viel, das weiß man gerade im Hamburger Sport leider sehr genau. Deshalb kann der Verlust von Finanzkraft durchaus auch als Chance gesehen werden. Für diejenigen, die den Boxsport aus Idealismus betreiben und nun wieder Hunger entwickeln müssen, um an die Fleischtöpfe zu gelangen, die aktuell in England und weiterhin in den USA stehen. Es bleibt Unsinn zu behaupten, dass im deutschen Boxen Typen und Talente fehlten. Noch immer werden hier hochklassige Kämpfe geboten und weltweit beachtete Wettkampfformate wie die Muhammad-Ali-Trophy entwickelt.

Dass die Stars von morgen nicht mehr Schulz, Maske, Ottke oder Brähmer heißen, liegt daran, dass die letzten Relikte des DDR-Sportsystems aufgebraucht sind und Boxen in Deutschland heute ein Sport für diejenigen ist, die schon früh im Leben zu kämpfen lernen müssen. Heute heißen deutsche Talente, die den Weg in die Weltklasse schaffen können, eben Harut­yunyan, Baraou, Ilbay, Kadiru, Formella oder, ja, auch mal Bauer, Bösel oder Feigenbutz. Wahrscheinlich werden sie nie die Quoten erreichen, die ihre Vorgänger bei ARD und ZDF machten. Ein Nachweis mangelnder Qualität ist das nicht.

Sie alle repräsentieren das neue Box-Deutschland, zu dem auch der vor eineinhalb Jahren eingebürgerte Syrer Charr zählt. Ich konnte Schmeling nicht kennen lernen. Aber ich glaube, dass er Charr die Chance auf seine Nachfolge gegönnt und ihm und den vielen jungen Deutschen, die um eine ähnliche Chance kämpfen, den Respekt gezollt hätte, den sie verdienen. Weil er ein Sportsmann war, der die Chance sah und nicht nur die Probleme.