Bundespräsident spricht zu den Deutschen – und zeigt Wege in die Zukunft auf
Seit dem 19. März ist Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident. Viele haben in diesem halben Jahr etwas Prägendes, eine eigene Handschrift vermisst. Nach dem leidenschaftlichen Redner und Prediger Joachim Gauck war da ein trockener Berufspolitiker ins Schloss Bellevue gezogen. Über ein Jahrzehnt war Steinmeier der engste Vertraute Gerhard Schröders – auch als Chef des Bundeskanzleramtes blieb er stets in der zweiten Reihe. Es mag eher ein großkoalitionärer Zufall gewesen sein, der ihn zum erfolgreichen Außenminister und 2009 zum erfolglosen SPD-Spitzenkandidaten machte. Nun ist er Staatsoberhaupt, aber mit beschränkten Mitteln. Ein Bundespräsident hat nur ein Machtinstrument, das ist sein Wort. Die Rede sein Florett.
Die Zweifel, ob Steinmeier dieses Florett beherrscht, hat er beim Festakt zur deutschen Einheit in Mainz bravourös weggewischt – mit einer kritischen wie klugen, mahnenden wie ermutigenden, parteiischen wie überparteilichen Rede. Für ihn wie für das Land könnte befreiend sein, dass nicht länger eine Große Koalition immer weiter schrumpfender Volksparteien in Berlin regieren wird. Er redet an diesem 3. Oktober nicht um den 24. September herum. Das Erstarken linker und rechter Parteien und die Schwindsucht der Mitte bei der Bundestagswahl sind nicht der Untergang der Demokratie, aber ein Warnzeichen: „Nicht alle, die sich abwenden, sind gleich Feinde der Demokratie. Aber sie alle fehlen der Demokratie“, sagt Steinmeier. Er ermutigt zum Streit, der in den Jahren der Großen Koalition über Nichtigkeiten wie die Maut zwar mit Verve geführt wurde, um zentrale Zukunftsfragen wie die Zuwanderung lange Zeit aber politisch korrekt ausgespart wurde. Die Folgen waren am Wahlsonntag zu besichtigen.
Der Bundespräsident fordert nun mehr Ehrlichkeit: Er unterscheidet zwischen politisch Verfolgten und Armutsflüchtlingen – wie es das Grundgesetz stets getan hat, in der blinden Willkommenseuphorie aber von vielen übersehen wurde. Steinmeier sagt, dass Deutschland endlich diskutieren muss, „welche und wie viel Zuwanderung wir wollen“ und welche legalen Zugänge es ins Land geben kann. „Nur wenn wir uns in beiden Fragen ehrlich machen, werden wir die Polarisierung in der Debatte überwinden.“
Steinmeier zeigt auf, wie die verfahrene bis vergiftete Debatte in Deutschland entemotionalisiert werden kann: Die Linke hat recht, wenn sie ein modernes Zuwanderungsrecht einfordert, und die Rechte, wenn sie auf eine Begrenzung drängt. Nur wer Migration steuert, vermag zu integrieren und damit Zuwanderern wie Einheimischen gleichermaßen zu dienen.
Besonders stark wird Steinmeier in den Momenten, in denen er von seinen Reisen durchs Land erzählt und dabei mehr Bürgernähe zeigt als Angela Merkel und Martin Schulz beim Kanzlerduell zusammen. Er spricht über das Gefühl Heimat, das man nicht denen überlassen dürfe, die es als Kampfbegriff des „wir gegen die“ missdeuten.
„Heimat ist offen, aber nicht beliebig“, sagt Steinmeier und nimmt damit Zuwanderer in die Pflicht. Die deutsche Vergangenheit ist Teil unserer Identität. Der Präsident bringt es auf den Punkt: „Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche.“ Steinmeier zitiert mehrfach einen Satz von Bürgern, der ihm zu schaffen macht: „Ich verstehe mein Land nicht mehr.“ Mit dieser Rede hat Steinmeier gezeigt, dass er dieses Land besser versteht als viele seiner Kritiker.