Wer kann aus Wutbürgern wieder Mutbürger machen? Ob sich die AfD im Bundestag entzaubert? Auch Kanzlerin Merkel ist angeschlagen.

Innerhalb von wenigen Minuten ist das politische Deutschland am Sonntag ins Wanken geraten. Es waren die Minuten nach 18 Uhr, in denen erst die unglaublich schlechten Ergebnisse von CDU/CSU und SPD bekannt wurden, dann der Triumph der AfD und schließlich der Verzicht der Sozialdemokraten auf eine weitere, rechnerisch immer noch mögliche Große Koalition.

Und jetzt? In einem Land, in dem es den Bürgern zumindest statistisch gesehen so gut wie lange nicht und besser als den meisten Menschen in anderen Staaten geht, wird politisch bald nichts mehr so sein, wie es eben noch war. Meint es die SPD ernst mit ihrer Ankündigung, auf jeden Fall in die Opposition zu gehen, bleibt für eine Regierungsbildung nur ein Bündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen.

Jamaika-Koalition oder Neuwahl

Was bis gestern schwer vorstellbar war, wird auf einmal notwendig, weil man sonst erneut wählen müsste. Kommt hinzu, dass eine zwar siegreiche, aber deutlich gebeutelte Kanzlerinnen-Partei auf zwei kleine Partner trifft, die kaum für möglich gehaltene Ergebnisse erreicht haben und entsprechend selbstbewusst auftreten werden. Allen voran Christian Lindner, der die Liberalen aus der außerparlamentarischen Opposition zur viertstärksten Kraft im Deutschen Bundestag gemacht hat.

AfD: Was dem Bundestag erspart bleibt

Platz drei, und das ist die nächste jener tektonischer Verschiebungen, von denen am Sonntag so viel gesprochen wurde, gehört der AfD. Bei einer Fortsetzung der Großen Koalition wäre ausgerechnet der rechtsnationalen Protestpartei die Rolle des Oppositionsführers zugefallen. Das bleibt dem Bundestag erspart. Aber sonst ist die AfD jetzt dort, wo sie schon vor vier Jahren hin wollte. Und es wäre gefährlich zu glauben, dass sich die Neulinge in den Ebenen der parlamentarischen Demokratie selbst entzaubern werden.

Anders als die Wähler anderer Parteien erwarten jene der AfD laut Befragungen gar nicht unbedingt, dass sie Probleme wie die Integration von Flüchtlingen löst. Es reicht, dass die Themen klar und zugespitzt angesprochen werden, nach dem Motto: Das wird man ja wohl in Deutschland noch sagen dürfen.

Richtig, dass die SPD in die Opposition geht

Die AfD mag rechtsextreme Mitglieder und Abgeordnete in ihren Reihen haben, viele ihre Wähler haben sie vor allem aus Enttäuschung über die Große Koalition gewählt. Deshalb ist es richtig, dass die SPD in die Opposition gehen will. Nur dort kann nach dem schlechtesten Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte und der vierten Niederlage eines SPD-Mannes gegen Angela Merkel ein Neuanfang gelingen. Welche Rolle Martin Schulz dabei spielen kann, wird man sehen. Er war der falsche Kandidat, und er hat Fehler gemacht, den größten zusammen mit der Kanzlerin beim sogenannten TV-Duell. Nachdem die vermeintlichen Kontrahenten dort wie ziemlich nächste Koalitionspartner gewirkt hatten, schnellten die Umfragewerte der AfD wieder nach oben. Endergebnis: siehe Sonntag.

Den ersten Fehler hat in der SPD allerdings jemand anders zu verantworten. Sigmar Gabriels Entscheidung für den ehemaligen Bürgermeister Würselens als Spitzenkandidaten hat sich nun endgültig als falsch erwiesen. Gabriel selbst in seiner Rolle als Außenminister oder Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz wären besser gewesen. Letzterer hatte schon Ende vergangenen Jahres gesagt, dass man am 24. September Angela Merkel schlagen könne und dass dafür ein Prozentwert 30 plus x reichen könne. Er hat recht behalten. Es war tatsächlich noch nie so einfach, die Kanzlerin zu besiegen.

CDU-Ergebnis wird Diskussionen um Merkel auslösen

Merkels schlechtestes Ergebnis bei ihrer vierten Wahl wird natürlich auch in der CDU/CSU Diskussionen auslösen. Mehr als eine Million Stimmen hat die Union an die AfD verloren, sie gilt es, in den nächsten vier Jahren zurückzugewinnen. Wobei sich schon jetzt die Frage stellt, die an eines der schwierigsten Zitate in der langen Ära Merkel erinnert: Schaffen wir das? Und wenn ja, mit wem?

In der Zusammenarbeit mit den Grünen liegt dabei für die CDU und auch für Deutschland eine Chance. Angela Merkel liebäugelt schon länger mit einer schwarz-grünen Koalition, nun braucht sie die FDP dazu. Unglaublich, aber wahr: Zusammen haben die drei Partner etwa genauso viele Abgeordnete im Bundestag, wie eine erneute Große Koalition sie hätte. Zwei Norddeutsche könnten im Übrigen in einer „Jamaika“-Regierung eine wichtige Rolle spielen.

Wolfgang Kubicki dürfte aufseiten der FDP als Minister gesetzt sein, insbesondere dann, wenn Christian Lindner sich wie erwartet für den Posten des Fraktionsvorsitzenden im Bundestag entscheiden sollte. Und auch die Hamburgerin Katja Suding gehört zu jenen, die für den Wiederaufstieg der FDP verantwortlich sind und die deswegen auf Anhieb Verantwortung übernehmen könnten.

Das politische Deutschland ist am Sonntag ins Wanken geraten, das Deutschland, in dem wir alle „gut und gerne“ leben wollen, schon lange vorher. Das hat viel mit der Flüchtlingskrise vor vier Jahren zu tun, aber eben nicht nur. Die Krise 2015 hat die Zerrissenheit der Republik nur beschleunigt: Hier die Großstädter, dort die Landbevölkerung. Hier Vermieter, dort Mieter. Hier gesetzlich Krankenversicherte, dort private. Hier Rentner, dort Arbeitnehmer. Hier Familien, dort Singles. Hier Osten, dort Westen. Wer kann die Gegensätze versöhnen? Wer kann aus Wut- endlich wieder Mutbürger machen? Die Antwort ist: Sie und ich, wir alle. Wer etwas ändern will, fängt jetzt damit an.

Es ist Zeit. Damit hatte Martin Schulz ausnahmsweise einmal recht.