Patientenversorgung im Zeichen der Digitalisierung: Der neue Notruf 116 117 ist ein Weckruf für den digitalen Wandel.

Der Patient ist dem Wortsinn nach jemand, der geduldig erträgt. Für viele Hamburger Kranke, die beim Durchmarsch vom Wohnzimmer in die Notaufnahme des UKE oder in eine der Asklepios Kliniken nicht links oder rechts schauen, wird man einen neuen Namen finden müssen. Es ist noch nicht „Der eingebildete Kranke“ à la Molière, aber vielleicht der „unpässliche Digital-Nomade“?

Mehr als jeder Dritte, der eigenständig in die Notaufnahme einer norddeutschen Klinik kommt, bezeichnet sich selbst nicht als Notfall. Das hat eine erschreckende Befragung des UKE ergeben. Erschreckend deshalb, weil hier eine komplexe Malaise entblättert wird, die uns alle im Innersten berührt – in unserer Gesundheit. Vor allem Jüngere haben ihr Körpergefühl verloren und ergooglen sich bei Magenschmerzen schon einen Tumor. Ihr Weg führt oft ohne einen erfahrenen Hausarzt direkt in die Maximalversorgung einer Klinik-Notaufnahme.

Wechselnde Arbeits- und Wohnorte sorgen dafür, dass immer weniger Menschen über Jahre einen festen Hausarzt haben. Sie erleiden Schiffbruch im Meer der modernen Medizin. Viele Patienten mit Rückenschmerzen, quälendem Bauchweh oder diffusem Unwohlsein glauben außerdem, zu lange auf Termine bei Orthopäden oder Internisten warten zu müssen. Sie wählen die Abkürzung Notaufnahme.

Und schließlich ist da die aus der digitalen Welt abgeleitete Erfahrung, dass alles immer zur Verfügung steht: schnelle Antworten auf spontane Fragen, Rund-um-die-Uhr-Hilfe, maximaler Technikeinsatz. So funktioniert Medizin nicht, keine persönliche Gesundung kann so klappen. Und unserem solidarischen Gesundheitssystem mit seinen Budget-Grenzen ist dieses Denken ohnehin fremd.

Zur Wahrheit gehört aber auch die Erkenntnis: Dann muss eben unser Gesundheitssystem umdenken. Für manche mag das eine Anspruchshaltung sein, die volkswirtschaftlich irrsinnig ist, eine Ego-Mentalität. Aber den Patienten zu sozialversicherungslogischem Verhalten umerziehen – das wird nicht funktionieren. Die Digitalisierung in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.

Was die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg nach drei Jahren Herumdoktern mit dem neuen Ärzte-Ruf 116 117 entwickelt hat, ist tatsächlich ein großer Schritt. Das „System“ wird vom Patienten her gedacht.

Wie viele Menschen den neuen Service annehmen, muss sich in den kommenden Jahren der Praxis zeigen. Hamburgs Niedergelassene können mit dem neuen Ärzte-Ruf auch ihre Leistungsfähigkeit und Flexibilität unter Beweis stellen. Die Patienten, bewaffnet mit Smartphone und Apps, verlangen nach einer zeitgemäßen Behandlung. Auch wenn die vielfältigen Fragen des Datenschutzes in der Black Box der Gesundheitskarte ungeklärt schlummern, sehnen sich die Kranken nach modernen Lösungen. Termin-Management, verständliche Diagnosen auf dem Handy nachlesen, sichere elektronische Patientenakten, Benachrichtigungen und Anleitungen für Medikamente – das sind nur einige Aspekte der Beziehung zwischen Patient und Arzt, die neu gedacht werden muss.

Und so banal es klingt in einer Gesellschaft, in der praktisch jeder intime Details aus dem Privatleben mit der virtuellen Welt teilt: Reden hilft. Wenn hausärztliche Gespräche nachhaltig besser von den Krankenkassen honoriert würden, wäre unser Gesundheitssystem noch ein bisschen gesünder.