Ein HamburG20-Tagebuch. Folge 2: Düstere Prognosen, ein linker Mob und absurdes Polittheater in der Elbphilharmonie.Von Matthias Iken

Es geschah am helllichten Tag – und zeigt das Selbstbewusstsein und die Zerstörungswut der Autonomen zugleich: Ein Schwarzer Block marschiert über die Elbchaussee und terrorisiert die Stadt. Bilder wie aus dem Gazastreifen: Rund 15 Autos brennen, das Altonaer Rathaus wird angegriffen, überall werden Scheiben zertrümmert.

Die Stadt versinkt in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, aber einige können nicht von ihren rituellen Schuldzuweisungen lassen: Die Polizei ist mal wieder an allem schuld, sie hat die Demonstration mit dem friedvollen Titel „Welcome to Hell“ zu früh und zu brutal aufgelöst. Das hätte ich hier gerne diskutiert, denn dafür gab es durchaus Indizien. Aber dieser Schuldzuweisungsdebatte werde ich – anders als viele Kollegen – nicht auf den Leim gehen. Kein Polizeieinsatz kann ein Argument sein, eine Entschuldigung oder überhaupt strafmildernd wirken. Nein, hier muss es um die kranken Bürgerkriegsfantasien mancher Menschen gehen.

Hans-Magnus Enzensberger, der große linksliberale Denker, hat 1993 ein kleines kluges Buch über Gewalt in der Gesellschaft geschrieben. „Der Bürgerkrieg kommt nicht von außen ... Begonnen wird er stets von einer Minderheit; wahrscheinlich genügt es, wenn jeder Hundertste ihn will, um ein zivilisiertes Zusammenleben unmöglich zu machen. Noch gibt es in den Industrieländern eine starke Mehrheit, der der Frieden lieber ist.“ Ob das immer noch gilt?

Sein Buch heißt „Aussicht auf den Bürgerkrieg“. Und es gibt offenbar zu viele Bürger, die Actionfilme inzwischen gern als Realität auf deutschen Straßen sehen – zumindest wenn es nicht die eigenen sind. Aber auf der Couch mit dem Liveticker oder vor dem Fernseher macht es vielen Spaß. Eine Umfrage des ARD-Deutschlandtrends zum G20-Gipfel förderte diese Sehnsucht zutage: 20 Prozent der Deutschen haben „Verständnis für die Proteste gegen den G20-Gipfel, auch wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt“. Wem das Auto angezündet oder eine Scheibe eingeworfen wurde, dürfte deutlich weniger Verständnis haben. Und was wird aus dem „Haut ab“ aus vielen Hundert Kehlen, wenn man selbst in Not gerät?

Heute führe ich ein neues Begriffspaar in meine Sprache ein: den „linken Mob“. Zu Recht haben wir uns in den vergangenen Monaten oft über einen „rechten Mob“ empört, der Hass säte, gegen Flüchtlinge hetzte und Busse bewarf. Aber Hamburg zeigt, dass das keine exklusiven Verhaltensweisen der Rechtsradikalen sind. Nein, alle Extremisten sind Brüder im Geiste. Das politische Spektrum ist ein Kreis. Und manchem in der Mitte klingt die Warnung vor dem Polizeistaat heute absurderweise fast wie ein Versprechen.

Aber wie viele der Gewalttäter, die durch die Stadt gezogen sind, sind wirklich Linke? Genützt haben sie der Sache der Gipfelkritik nicht, sie haben den gesamten Protest, so fantasievoll und bunt er in den vergangenen Tagen auch war, diskreditiert und in den Schmutz gezogen. Und die ganzen Gruppen, die sich nicht konsequent von Gewalt abgesetzt haben – inklusive der Linkspartei –, sind dafür am Ende mitverantwortlich. Attac etwa war einst eine ernst zu nehmende Nichtregierungsorganisation – diesen Ruf hat sie in Hamburg verwirkt. Früher argumentierten sie für die dringend benötigte Finanztransaktionssteuer, heute wettern sie nur noch gegen Polizeigewalt.

Und was schreibt auf Twitter die verfassungspolitische Sprecherin der Linkspartei, die wie in einer Operettenaufführung unermüdlich als „parlamentarische Demo-Beobachterin“ unterwegs ist? Sie berichtet etwa: „In der Rothe­straße werden gerade mehrere Hundert Menschen gefesselt. Von ihnen geht keine Gewalt aus.“ Oder: „Festgenommener Seewartenstraße wird seit 10 Minuten im Schmerzgriff festgehalten, obwohl Situation ruhig.“ Kein einziges Wort der Distanzierung von Gewalt, obwohl viele Nutzer sie darauf ansprechen. In welcher Verfassung ist eigentlich diese Partei? Vielleicht beantwortet sie die „friedenspolitische Sprecherin“ der Linken im Europaparlament: „Jetzt haben sie die Bilder, die sie wollten!“

Die Polizei bleibt der Lieblingsgegner, nicht nur von Linken und Autonomen – auch von Journalisten. Jakob Augstein twittert am Donnerstagabend um 21.46 Uhr: „Werden jetzt kasernierte Polizisten, die sich schon tagelang gelangweilt haben, auf Demonstranten losgelassen?“ Er ist nicht der einzige Journalist, der sich auf so steile Thesen versteigt.

Mehrfach habe ich zeitgleich auf St. Pauli erlebt, wie Wutbürger auf Polizisten einredeten, sie beschimpften und bepöbelten. Der Schaulustigenpulk bei der „Welcome to Hell“-Demo ging die Polizei ausdauernder und heftiger an als der Schwarze Block. Gegen die Polizei zu sein gilt heute vielen als Ausweis besonderer Liberalität. Oder ist es schlichtweg Ahnungslosigkeit?

Auch ihnen sei ein kluges Buch empfohlen: „Warum Nationen scheitern“ aus der Feder von Daron Acemoglu und James A. Robinson: Grundvoraussetzung für Wohlstand, so ihre These, sind funktionierende Institutionen, Gewaltenteilung, Eigentumsrechte, eine demokratische Polizei. Wo diese Dinge fehlen, scheitern Staaten. Aber vielleicht ist das ja der Wunsch vieler Krawallbrüder. Was glaubte schon der ­Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin? „Nur aus der Pulverisierung des Bestehenden kann eine neue Gesellschaft erwachsen“. Nur welche?

Für Hamburg sind die Ereignisse des Tages ein Fiasko. Das Tor zur Welt wollte sich als liberale Stadt präsentieren, die auch ungeliebte Staatschefs gastfreundlich begrüßt und Gegnern eine maximale Demonstrationsfreiheit gewährt. Diese Gastfreundschaft haben einige Gewalttäter aufs Schändlichste missbraucht. Und es stellt sich die alte Frage „Cui bono?“ – Wem zum Nutze? Bei der AfD wird man die Bilder aus Hamburg genießen. „Linksextremisten dürfen nicht länger mit Samthandschuhen angefasst werden, sondern sind als das zu behandeln, was sie sind: Terroristen“, sagt die Bundestags-Spitzenkandidatin Alice Weidel. Der Schwarze Block als bester Wahlhelfer für Rechtsaußen. Und als klasse Feind der vielen vernünftigen Gegner: Was sind deren Thesenpapiere noch wert gegen die Brandsätze des Schwarzen Blocks?

Es gab auch noch Weltpolitik, die das Geschehen auf der Straße noch absurder erscheinen lässt: US-Präsident Donald Trump und Russlands Staatschef Wladimir Putin sind sich in Hamburg erstmals persönlich begegnet. Am Morgen gab es einen ersten Handschlag, am Nachmittag eine längere Begegnung. Themen gibt es genug, etwa den Krieg in Syrien und der Ukraine. Angela Merkel „freute sich, in Hamburg zu sein“. Es gehe darum, eine vernetzte Welt zu gestalten. Einen Pyrrhussieg dürfen derweil die Gegner feiern, die den Gipfel um jeden Preis behindern wollen. Ein Teil des Partnerprogramms musste abgesagt werden – Joachim Sauer wollte seine Gäste ins Klimarechenzentrum führen und unter anderem Melania Trump auf den Klimawandel hinweisen. Daraus wurde nichts. Auch das haben die Gegner ganz prima hinbekommen.

Was für ein Perspektivwechsel. Am Abend lud die Kanzlerin in die Elbphilharmonie. Beethovens Neunte. „Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt.“ Klingt nach einem schönen Traum in einem tobenden Albtraum. Es sind zwei Welten: drinnen gespannte Erwartung, draußen erwartete Spannungen. An den Landungsbrücken sammeln sich die Demonstranten und ziehen bis zum Baumwall; und in das Konzerthaus von Weltrang sind alle Staatschefs gekommen, auch viele Hamburger Ehrengäste. Und trotzdem wird man das flaue Gefühl nicht los, Staffage für ein Weltereignis zu sein, das ziemlich aus dem Ruder läuft. Freunde, nicht diese Töne, singt der Chor. Allein, die Idioten des Schwarzen Blocks hören es nicht. Darf man eigentlich Idioten schreiben? Als Demokrat finde ich: Heute muss man es sogar.

Nach dem ersten Gipfeltagbleibt ein Gefühl tiefer Trauer und Verstörung: Der G20-Gipfel hinterlässt nur Verlierer – mit Ausnahme der Hamburger Glaserbetriebe.