Das Unbehagen über das G20-Treffen ist groß, die Fronten sind verhärtet. Wir reden zu viel über Gewalt. Ein Essay.

So hatte sich Hamburg dieses Treffen sicher nicht vorgestellt. Als 2015 Deutschland zum Gastgeber des größten und wichtigsten Gipfels auserkoren wurde, sah die Welt noch anders aus: In den USA regierte Präsident Barack Obama, und nur ein unterbelichteter Zocker hätte einen Cent auf Donald Trump als seinen Nachfolger gesetzt. Recep Tayyip Erdogan galt als ernst zu nehmender Staatsmann, der die Türkei vielleicht in die Europäische Union führen würde. In Brasilien regierte Dilma Rousseff mit absoluter Mehrheit. Die Welt schien ein überschaubarer Ort zu sein.

Inzwischen ist sie aus den Fugen. Donald Trump zerstört die Nachkriegsarchitektur mit der Abrissbirne, Erdogan verwandelt die Türkei in einen islamistischen Staat, Putin träumt von der alten Größe längst vergangener Sowjet- oder gar Zarenzeiten. Und in Brasilien regiert heute ein gewisser Michel Temer – an die Macht gekommen durch einen Putsch von oben. Neben Zaren, Autokraten und dem Sultan aus Ankara treffen sich noch weitere „lupenreine Demokraten“ aus China, Indonesien, Saudi-Arabien oder Südafrika. Die Hansestadt wollte sich als weltoffene Metropole und attraktiver Olympia-Gastgeber präsentieren; nun geben sich einige Unsympathen am 7. und 8. Juli ein Stelldichein.

Entsprechend breit fällt der Protest aus, die Stadt zeigt sich politisiert wie lange nicht mehr: Von ganz links bis weit in die bürgerliche Mitte reicht das Unbehagen. Die einen stecken sich Buttons an, die anderen Polizeiwagen in Brand. Mehrere Dutzend Demonstrationen wollen in unterschiedlicher Intensität ihrem Widerstand gegen das Treffen oder die Thesen mancher Staatenlenker Ausdruck verleihen. Sogar der Landesmusikrat musiziert gemeinsam für Vielfalt und Toleranz. Viele Hamburger, sonst stolz auf ihr Understatement und ihre hanseatische Gelassenheit, reagieren wie aufgescheuchte Hühner. Die einen sehen ihre Stadt in Schutt und Asche versinken, die anderen gehen jedem Gerücht auf den Leim. Dass während der Gipfeltage keine U-Bahnen mehr fahren, wollen die einen wissen. Andere behaupten, die Polizei fordere Geschäfte und Arztpraxen zum Schließen auf, und wieder andere raunen, Anwohner sollten Rettungszonen in ihren Wohnungen einrichten.

Nein, Hannibal Lecter und Darth Vader kommen nicht

Große Unternehmen fernab vom Geschehen gewähren Sonderurlaub, Kaufhäuser verrammeln ihre Schaufenster, und viele Menschen erwägen, ins Umland zu fliehen. Eine Möchtegern-Weltstadt im Panikmodus und ein Bürgermeister, der seine Bürger nicht mehr versteht: „Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“ Vielleicht hätte man den Gipfel nach Sylt vergeben sollen, die Insulaner sind einfach souveräner.

Bei allen Behinderungen und Einschränkungen: Wollen wir in Hamburg, dem angeblichen Tor zur Welt, genau dem Isolationismus das Wort reden, den wir bei Trump so abgrundtief verachten? Hamburg first – und verschont uns mit der Welt da draußen?

Es mutet schon seltsam an. Natürlich muss man nicht stolz auf die Stadt sein, wenn von heute an bis zu 20.000 Delegierte und Unterhändler zusammenkommen, knapp 5000 Journalisten aus aller Welt und Zehntausende Protestler. Aber muss man deshalb gleich gegen den G20-Gipfel sein?

Es ist ein bunter Protest, der aus schwarzen Blöcken und grünen Idealisten besteht, es ist ein breiter Widerstand, von Revoluzzern und Unpolitischen getragen. Die Gipfelbesetzung ist nur eine Ursache des Protests – die Lis­te der Staats- und Regierungschefs liest sich, als seien Bösewichte deutlich überrepräsentiert. Allerdings wird mitunter vergessen, dass ein Großteil der Gäste demokratisch von ihren Bürgern gewählt wurde – wenn auch nicht von den Protestierern. Auf vielen Foren, Diskussionsrunden und beim Gegengipfel werden nicht nur berechtigte Fragen gestellt, sondern auch gemeinsam kluge Antworten gesucht. Wie kann ein gerechter Welthandel aussehen? Wie der Klimaschutz vorangebracht werden? Wie kann nachhaltige Hilfe für Afrika funktionieren? Viele Gruppen, die den Diskurs in den vergangenen Jahren belebt und geprägt haben, sind mit dabei: Misereor und der BUND, Gewerkschaften und Greenpeace.

Allein, sie dringen kaum durch. Linksextremisten vernebeln die Debatte mit wüsten Drohvideos, Linke überziehen die Gerichte mit immer neuen Klagen und Radikale ignorieren manches Urteil bei Missfallen. Seltsame Verwünschungen machen die Runde. „Hamburg unterscheidet nicht mehr viel von totalitärer Diktatur“, meint einer der Sprecher der G20-Proteste. Was zweierlei zeigt: eine atemberaubende Unkenntnis über den Totalitarismus und eine Maßlosigkeit der Kritik. Die Linke Petra Pau, immerhin Bundestagsvizepräsidentin, wähnte Hamburg gar als „Enklave à la Nordkorea“. Immer schriller werden die Vergleiche. Und immer hanebüchener.

Hinzu kommt eine beeindruckende Oberflächlichkeit: Widerstand 2.0 mit Argumenten in Twitterlänge, mit Facebook-Parolen und Campact-Filmen à la „In 2 Minuten erklärt: Warum der G20-Gipfel so wichtig ist“ – und warum alle in Hamburg mit protestieren sollen. Sogar Cornern mit Bier in der Hand nennt sich heute Widerstand; früher musste man dafür noch Adorno gelesen haben. Die Einfalt dieser Welt: Donald Trump hat sie nicht exklusiv.

Man kann über alles diskutieren und gegen vieles demonstrieren: die umweltpolitische Geisterfahrt des US-Präsidenten, die völkerrechtswidrige russische Annexion der Krim, den Abbau des Rechtsstaats in der Türkei, die Korruption in Südafrika, die Regenwaldzerstörung in Brasilien und Indonesien, Menschenrechtsverletzungen in China und, und, und. Man sollte es sogar, um ein machtvolles Zeichen einer Bürgergesellschaft zu setzen, die über den Tellerrand blickt.

Aber kann man ernsthaft dagegen sein, dass sich Staatschefs und Institutionen zum Austausch und Dialog treffen? Mit dieser Haltung fiele man hinter alle diplomatischen Erfolge seit der KSZE zurück. Und was ist von den Argumenten der Gegner zu halten, die auf die Vereinten Nationen als besseren Problemlöser verweisen? Wenig. Dort lähmt das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats die Arbeit – übrigens mehr als 250-mal in der Geschichte. Beißende Kritik üben Gipfelgegner daran, dass Afrika angeblich nur durch Südafrika vertreten ist. Dabei hat die Kanzlerin Guinea als Vorsitz der Afrikanischen Union und den Senegal als Vorsitz der Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung ebenfalls eingeladen. Und ob eine Vollversammlung der afrikanischen Staaten mit ihren Despoten, Diktatoren und Warlords eine Konferenz weiterbringt, darf man bezweifeln.

Die Agenda des G20-Gipfels haben die heute demokratischen Deutschen festgelegt – und selbst viele Nichtregierungsorganisationen loben, wie intensiv sie in die Vorbereitungen einbezogen wurden. Zuletzt reiste die Kanzlerin sogar zum C20, dem Gipfel der Zivilgesellschaft, nach Hamburg und stellte sich der Diskussion. Kanzlerin und Aktivisten waren nicht immer einer Meinung, aber erkannten die Sinnhaftigkeit ihres Dialogs. Und bei der G20-Afrika-Initiative „Compact with Africa“ ermutigte die Kanzlerin die Teilnehmer zur offenen Diskussion: „Reden Sie Tacheles!“

Während einige Klartext reden, zünden andere Nebelbomben. Manche Gegner erwecken den Eindruck, Darth Vader, Hannibal Lecter und Freddy Krueger kämen in Hamburg zusammen, um hinter verschlossenen Türen die Welt unter sich aufzuteilen, bösen multinationalen Konzernen mit hinterhältigen Freihandelstricks die Erträge zu steigern und den Klimaschutz auszubremsen. Doch es geht um Diplomatie: Die bewegt sich langsamer als ein Demonstrationszug und kommt trotzdem oft eher ans Ziel.

Worum also geht es?

Eigentlich um Themen, die sich viele der Gegner auf ihre Fahnen geschrieben haben. Es geht um internationale Steuerfragen, die Regulierung der Finanzmärkte oder den Kampf gegen den Klimawandel. Es geht um Wirtschaftswachstum und Welthandel, die Digitalisierung, Arbeit und Beschäftigung sowie Gesundheitsvorsorge. Die sogenannten Sherpas, die Zuarbeiter der Staatschefs, bereiten einen Aktionsplan Klimaschutz vor, der ein wichtiges Signal nach dem Ausscheren der USA wäre. In einer Zeit, in der vermeintliche Selbstverständlichkeiten plötzlich wieder infrage stehen, ist der Diskurs wichtiger denn je.

Mit Donald Trump ist erstmals ein Gegner von multilateralen Lösungen Teil der G20. Er wird vieles von dem vertreten, was sich die Demonstranten wünschen: ein Ende des Freihandels, Nein zu TTIP und zur Globalisierung. Der „SZ“-Kolumnist Nikolaus Piper brachte es auf den Punkt: „Wer gegen Donald Trump protestieren will, der müsste für die G20 demonstrieren.“

Die Agenda dieses Gipfels ist lang, nicht alles wird abgearbeitet werden. Die Erwartungen sind hoch, viele werden enttäuscht werden. Aber allein die Debatten im Vorfeld bringen die Themen in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Auch das vermag ein solcher Gipfel zu erreichen, wenn man sich nicht seine Sinne von den Rauchschwaden bengalischer Feuer vernebeln lässt.

Es lohnt, in die Geschichte der G20 zu blicken: Der große Gipfel ist ein Kind der Finanzkrise – als die Weltwirtschaft 2008 in den Abgrund blickte, trafen sich die Staatschefs in Washington und koordinierten ihre Strategie gegen eine weltweite Wirtschaftskrise. 2009 in Pittsburgh einigten sich die Vertreter auf dringend überfällige Kontrollen der entfesselten Finanzmärkte. Auch bei den Folgetreffen ging es um Strategien gegen Steuerhinterzieher und Steuer­optimierer. Nicht jede wohlklingende Verabredung wurde am Ende von allen Staaten umgesetzt – aber ob die Welt ohne die Idee der G20 besser aussähe, darf bezweifelt werden.

Es gibt eine dekadente Sehnsucht nach Bürgerkrieg

Das macht den radikalen Widerstand auch für die unverständlich, die wie manche Senatsvertreter selbst eine bewegte Demo-Jugend hinter sich haben. Ausgerechnet die Linkspartei geriert sich in Hamburg als einsame Kämpferin für den Rechtsstaat: Sie nutzt geschickt ihr Alleinstellungsmerkmal im politischen Deutschland und schmiegt sich an radikale Gipfelgegner an. Selbst Splittergruppen wie die Interventionistische Linke bekommen den ganz großen Auftritt. Gruppen, die mit Gewalt und „kollektiven Regelübertritten“ kokettieren und sich ausdrücklich nicht von Randale absetzen, dürfen sich im NDR, in der „Süddeutschen Zeitung“ und anderen Qualitätsmedien immer wieder wortreich ausbreiten. Und treffen auf Verständnis.

Von „Stern“ über „Zeit“ bis zur „Tagesschau“ ist bei jeder Grenzüberschreitung von „Aktivisten“ die Rede. Das klingt doch mal positiv! Die tun was. Nur was? Der Gleichklang der Radikalen klingt ziemlich schrill: „Blockieren, sabotieren, demontieren“, das Ziel lautet „G20 entern“ und „Abbruch des Gipfels“; in ganz Hamburg ist von „Wut“ und „Zerstörung“ die Rede und von „Welcome to Hell“. Und: „Mit uns gibt es Molotowcocktails statt Sekt­empfang!“

Die Widerständler umweht ein Che-Guevara-Hautgout – mit dem Unterschied, dass die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist, keine Bananenrepublik. Irgendwie sind die Maßstäbe in der Republik verrutscht. Rechte Pöbeleien auf Facebook sind für viele Publizisten und Politiker Anlass genug, Gesetzespakete gegen Hassreden auf den Weg zu bringen. Steinwürfe gegen Polizisten hingegen halten viele für Polit­folklore. Dabei muss Gewalt gegen den Rechtsstaat für jeden Demokraten inakzeptabel sein – egal ob sie von links oder rechts kommt. Man sollte sich nicht täuschen. Die Extremisten schaukeln sich auf, die größten Profiteure einer zu befürchtenden linken Gewaltorgie sind die vermeintlichen Saubermänner vom rechten Rand.

Trotzdem hat sich die Debatte in den vergangenen Tagen arg auf die durchaus kritikwürdige Polizeitaktik verengt. Man sollte über den Sinn und Unsinn von Campverboten diskutieren. Aber muss man nicht mehr über die Eskalation der Autonomen reden? Ein Flora-Sprecher hatte schon im Juni stolz klargestellt, es werde der „größte schwarze Block“ der Geschichte kommen. Das werde „natürlich kein Spaziergang der katholischen Pfadfinderjugend“. Die hätte im Übrigen schon vor Monaten Zeltplätze in Hamburg organisiert, statt vom verhassten Staat bei Anreise gefälligst ausreichend Schlafplätze und Duschen einzufordern.

Interessant ist auch, wie viele sich auf Innensenator Andreas Grote (SPD) und Innenminister Thomas de Maizière (CDU) einschießen. Letzterer hatte gefordert, Gewalt, egal von wem, müsse im Keim erstickt werden. Eine Binse, dachte man. Für den Linken-Politiker Jan van Aken gleichwohl eine Provokation: „De Maizière heizt Stimmung bei G20-Protesten an.“

Geradezu grotesk mutet an, dass sich der rot-grüne Senat immer wieder anhören muss, er behindere den Protest. Dutzende Demos begleiten den Gipfel, sie kommen so nah an die Tagenden heran wie selten zuvor. Massive Unterstützung bekommen die gemäßigten G20-Kritiker etwa bei der laufenden Kampnagel-Konferenz, vielen Initiativen wurden Räume gestellt. Selbst die Hamburger Brennpunkte des Widerstands – Rote Flora und Gängeviertel – hat die Stadt einst der Szene spendiert. Das war stets eine Politik der souveränen Toleranz, auch das Widerborstige zu akzeptieren. Das beinhaltet aber die Verantwortung für die linksradikale Szene, nicht durchzudrehen. Derzeit aber reagieren einige wie verzogene Halbwüchsige – sie kennen genau ihre Rechte und pfeifen auf alle Pflichten. Und schuld ist immer die Polizei.

So schwebt die Gewaltfrage über allem. Extremisten wissen um die Macht der Bilder, sie verstehen viel von PR – brennende Barrikaden, Steinhagel und zerstörte Straßenzüge sind die Bilder, auf die sich die Medien stürzen, ja, die auch viele Bürger erwarten. Es gibt eine dekadente Sehnsucht nach dem Bürgerkrieg. Fakten, Vorschläge, Ideen für eine bessere Welt interessieren leider kaum: Was ist ein Thesenpapier gegen ein Flammenmeer?

Diese Gewaltdebatte, die Konzen­tration auf die radikale Minderheit, ist eine Steilvorlage für die Hardliner auf dem G20-Gipfel. Die Autokraten aus Russland, der Türkei und China werden Gefallen finden an Bildern des Chaos – sie werden diese als Beleg für die Überlegenheit ihrer autoritären Staaten werten. Und sie könnten eine dürftige Bilanz ihres Gipfels hinter den Krawallen der Autonomen verstecken. Die vernünftigen Anliegen der vielen gewaltfreien Gipfelgegner dringen nicht mehr durch.

Das könnte am Ende das wahre Drama von G20 in Hamburg sein.