Die Hamburger schaffen ein keines Fußballwunder und retten sich – aber der Kampf um den Klassenerhalt hat schon wieder begonnen.
Eine Stunde nach Spielende gönnte sich Markus Gisdol einen kurzen Blick zurück. „Nach dem zehnten Spieltag waren wir tot. Erledigt“, sagte der aufgewühlte Trainer des HSV, der nicht wusste, wohin mit seinen Gefühlen. Nur zwei Punkte auf der Habenseite – mit einer solchen Hypothek bepackt hatte es in 53 Bundesliga-Jahren noch kein Verein geschafft, am Ende die Klasse zu halten.
Ja, es ist ein kleines Fußballwunder, mit nur 33 Toren und 61 Gegentoren (nur der Letzte, Darmstadt 98, war noch schlechter) die Gesetzmäßigkeiten des Fußballs außer Kraft gesetzt zu haben und nicht abzusteigen. Wer wollte es da Trainern, Betreuern, Spielern und vor allem den HSV-Anhängern verübeln, dass sie den Last-minute-Sieg gegen Wolfsburg so ausgelassen wie eine Nichtabstiegsmeisterschaft feierten? Diese Eruption der kollektiven Freude nach Luca Waldschmidts Treffer wird niemand vergessen, der Sonnabend live im Stadion war.
Eigentlich unfassbar: Nach dem FC St. Pauli hat sich nun also auch der HSV gerettet. Nur die größten Optimisten hätten dies für möglich gehalten. Die Messe über den Untergang der Hamburger Sportstadt war längst gelesen. Bis zuletzt drohte, dass die Hansestadt in den wichtigsten Mannschaftssportarten (Fußball, Handball, Eishockey, Basketball, Volleyball) nicht mehr erstklassig ist. Ein Horrorszenario mit nicht abschätzbaren Folgen.
HSV hatte sich selbst in die dramatische Lage gebracht
Die Energieleistung des HSV verdient größten Respekt, sollte allerdings nicht den Blick dafür vernebeln, dass sich der Club durch dramatisch viele Fehlentscheidungen selbst in diese Lage gebracht hatte. Wer in sechs Spielzeiten trotz Millioneninvestitionen viermal unter der magischen 40-Punkte-Marke geblieben ist, sollte wissen, dass der nächste Abstiegskampf seit Sonnabend, 17.22 Uhr, bereits wieder begonnen hat. Mit dem Aufstieg des VfB Stuttgart und von Hannover 96 wird der Ausscheidungskampf in der 54. Bundesliga-Saison noch brutaler.
Unabsteigbar: Der HSV feiert die Rettung
Es bleibt zu hoffen, dass der HSV aus den Fehlern der Vergangenheit endlich gelernt hat. Allerdings steht Sportchef Jens Todt vor großen Herausforderungen: Ihm muss es gelingen, das Gehaltsniveau signifikant zu senken, das Team ausgewogener zu besetzen und bei Verpflichtungen nicht mit Millionen um sich zu werfen. Den Kader nur mit jungen Talenten aufzufüllen wäre jedoch die falsche Vorgehensweise. Dem HSV fehlte es in fast allen Mannschaftsteilen an Führung, an Struktur. Dass Gisdol einen Kyriakos Papadopoulos unbedingt behalten will, unterstreicht nur, wie selten solche Mentalitätsmonster wie der Grieche im Team anzutreffen sind.
Lange Bälle dürfen nicht das Konzept der Zukunft sein
Alle seien ein wenig müde gewesen, was das Meistern der schwierigen Aufgabe angehe, gab der HSV-Trainer zu. Eine Aussage, die nur unterstreicht, dass diese Mannschaft in ihrer Zusammensetzung keine Zukunft hat.
Angesichts des von der Clubführung angepeilten personellen Umbruchs wäre es umso wichtiger, mit Beginn der Sommervorbereitung den Kader weitgehend komplett zu haben, um intensiv üben zu können. Denn eines darf bei allem Jubel über den Klassenerhalt nicht vergessen werden: Der Fußball, den der HSV seinen Fans anbot, war größtenteils schrecklich anzusehen. Nur mit langen Bällen zu operieren kann und darf nicht das Konzept der Zukunft sein.
Einen großen Vorteil hat der HSV allerdings: Er muss ausnahmsweise keinen neuen Vorsitzenden, keinen neuen Sportchef, keinen neuen Trainer und (vorerst) keinen neuen Aufsichtsratschef suchen. Wenn das kein Zeichen von ersehnter Kontinuität ist.