Eine neue Verkehrspolitik nimmt die Politik in die Pflicht – aber auch die Radler

Solche Zuwachsraten kennt man hierzulande nur noch von neuen Technologien oder neuen Konzerthäusern: Um 56 Prozent soll zwischen 2011 und 2016 die Zahl der Radfahrer gewachsen sein. Das Fahrrad, früher ein Vehikel des Widerstands und der Widerständler, ist zu einem Transportmittel der Massen geworden. Grüne und Schwarze, Hippies und Anzugträger, Rebellen und Rechtsanwälte entkommen strampelnd dem Stau.

Und erstmals seit Jahrzehnten ist die Verkehrswende auch im Rathaus angekommen, ja, sie wird sogar dort gesteuert. Als Olaf Scholz 2011 seine erste Regierungserklärung hielt, kam das Rad nur am Rande vor – viel war hingegen vom „modernsten Bussystem Europas“ die Rede. Heute redet kaum noch einer über das 259-Millionen-Euro teure Prestigeprogramm namens Busbeschleunigung, aber viele über das Rad. Und das dürfte dem Bürgermeister ganz recht sein.

Denn nicht nur der Politik, auch dem Handel und der Wirtschaft dämmert es, dass am Fahrrad kaum ein Weg vorbeiführt. In einer wachsenden Stadt, die seit 2011 rund 100.000 Einwohner gewonnen hat, wachsen auch die Verkehrsströme; sie zu leiten und zu verteilen, wird zu einer Lebens- und Überlebensfrage von Metropolen.

Gerade für kurze und mittlere Distanzen ist das Fahrrad die bessere, schnellere und umweltfreundlichere Alternative: Älteren Erhebungen zufolge liegt Hamburg bei der Verteilung der verschiedenen Verkehrsträger, dem Modal Split, nur im hinteren Mittelfeld. Zwölf Prozent der Hamburger nutzen im Berufsverkehr das Rad – in München sind es 17, in Bremen 19 und in Münster sogar 39 Prozent. Im Ausland fahren Kopenhagen mit 30 und Amsterdam mit 38 Prozent voraus. Da geht noch was: Wer Hamburger zum Umstieg motiviert, entlastet die Straßen, aber auch den öffentlichen Personennahverkehr.

Die 56 Prozent Zuwachs weisen in die richtige Richtung, sollten aber nicht überbewertet werden. Die Datengrundlage ist noch schmaler als mancher Radweg, die Zahlen so erratisch wie manche Ampelschaltung. Der Weg zur Fahrradstadt ist noch weit. Noch immer verfügen viele Hauptrouten von Radlern weder über einen Radstreifen noch einen Radweg. Kleinere Straßen schrecken als Buckelpisten mit Kopfsteinpflaster ab, auf größeren Straßen müssen sich Radler ausgerechnet mit Bussen die Spur teilen und um ihr Leben fürchten. Viele Ampelschaltungen erfüllen den Tatbestand des Mobbings, und Baustellen werden bis heute abgesperrt, ohne auch nur einen Zentimeter die Interessen der Radler in den Blick zu nehmen. Die Wunschzettel der Fahrradlobby sind in Hamburg länger als die gieriger Kinder vor Weihnachten. Aber sie sind es zu Recht. Leider verzettelt sich die Politik mit manchen Eskapaden – ein Radweg über den Sandstrand von Övelgönne gehört genauso dazu wie teure Stellflächengutachten für das Komponistenviertel. Der Senat sollte nicht vergessen: Vor der Kür kommt die Pflicht.

Dazu wird auch gehören, Radfahrer verstärkt in die Pflicht zu nehmen. Die Rebellenattitüde mancher Radler gegen die autogerechte Stadt war verständlich, heute aber wird sie mehr und mehr zum Ärgernis. Wer dieselben Rechte einfordert, für den gelten die- selben Pflichten, nachzulesen in der Straßenverkehrsordnung: Auch Geisterfahrer, Rotlichtsünder und Einbahnstraßenradler diskreditieren das wichtige wie richtige Ziel der Fahrradstadt Hamburg.