Hamburg. Alleine die Qualität der Münchner in der Nachspielzeit zeigt den Hamburgern viele Fehler der Vergangenheit auf.
Am späten Mittwochabend saß Huub Stevens bei Markus Lanz. Der langjährige Bundesligatrainer, der gerade seine Biografie veröffentlicht hat, erzählte aus seinem Leben. Es ging viel um Familie. Und ein bisschen um Fußball. Auch um den HSV, den er 2008 für seine kranke Frau Toos verlassen hatte. Und natürlich durfte ein Thema nicht fehlen. Die „Meisterschaft der Herzen“ mit Schalke 2001. Das vierminütige Gefühl, die Schale gewonnen zu haben. Doch dann das Tor in Hamburg. 94. Minute. Patrick Andersson, 1:1, Bayern München war Meister. „Warum hat der Schiedsrichter eigentlich so lange nachspielen lassen?“, fragte ZDF-Moderator Lanz. Stevens Antwort: „Das habe ich mich damals auch gefragt.“
Knapp 16 Jahre später spricht mal wieder ganz Fußball-Deutschland über die Bayern und die Nachspielzeit. Robert Lewandowski hatte am vergangenen Sonnabend in der 96. Minute bei Hertha BSC den Münchner Ausgleich erzielt. Mal wieder so ein spätes Bayerntor. Schon zum dritten Mal allein in diesem noch jungen Jahr erzielte der Meister ein entscheidendes Tor nach Ablauf der regulären Spielzeit. Sogar die Satire-Seite „Der Postillon“ witzelte in einer Eilmeldung: „2697. Minute: Lewandowski erhöht gegen Hertha auf 2:1. Sekunden später pfeift der Schiri ab.“
Am Sonnabend könnte die Geschichte eine Fortsetzung finden. Die erfolgreichste Mannschaft der Nachspielzeit trifft auf die harmloseste. Bayern gegen den HSV. Keine Mannschaft dreht so viele Spiele so spät wie die Münchner, keine Mannschaft macht so wenig in den letzten Minuten wie die Hamburger. Seit fast zwei Jahren hat der HSV kein spielentscheidendes Tor mehr in der Nachspielzeit erzielt. Allein in dieser Saison kassierte der HSV drei Gegentore nach der 90. Minute – nur Freiburg und Mainz sind anfälliger.
Was zunächst einmal nach einem statistischen Zahlenspiel klingt, sagt viel aus über die unterschiedlichen Erfolgslinien der beiden Clubs, die sich einst auf Augenhöhe befanden. Da sind auf der einen Seite die Bayern, die in ihrem Club über Jahre eine Mentalität entwickelt haben, nach Erfolg zu gieren. Und wenn ein Spiel dafür 96 Minuten dauern muss. Oder wie Oliver Kahn sagen würde: „Immer weiter, immer weiter.“ Auf der anderen Seite die Hamburger, die diese Mentalität in den vergangenen Jahren immer nur dann entwickeln konnten, wenn der Abstieg mal wieder so gut wie besiegelt war. Marcelo Diaz war es, der in der Relegation 2015 das bis heute letzte entscheidende HSV-Tor in einer Nachspielzeit erzielte. Der Mann, der mit den Worten in Hamburg angetreten war: „Ich bin ein Siegertyp.“
Genau diese Siegertypen sind es, die dem HSV seit Jahren fehlen. Die Spieler kamen und gingen, doch das Mentalitätsproblem in Hamburg blieb. In der Kaderzusammenstellung wurden immer wieder die falschen Schwerpunkte gesetzt. Eklatant wurde das Problem in dieser Saison sichtbar. Im Sommer holte Dietmar Beiersdorfer für viele Millionen feine Fußballer wie Alen Halilovic, Filip Kostic oder Douglas Santos. Gute Kicker, aber keine Typen, die man braucht, wenn mal wieder ein Rückstand gedreht werden muss oder ein Spiel in der Nachspielzeit Spitz auf Knopf steht. Wie sehr dem HSV diese Spieler gefehlt haben, wurde zuletzt deutlich, als Winterneuzugang Kyriakos Papadopoulos plötzlich einen Willen offenbarte, den man in Hamburg von einem Spieler seit Jahren nicht erlebt hat. Der Grieche, der im Sommer wohl zurück nach Leverkusen geht, hat dem HSV bereits in seinen ersten vier Wochen vor Augen geführt, was die Hamburger in all den Jahren versäumt haben.
Sollte es dem HSV am Sonnabend gelingen, das Spiel in München auch ohne den verletzten Papadopoulos bis zur Nachspielzeit offenzuhalten, wäre das bereits eine kleine Sensation. Wie man bei den Bayern die große Sensation schafft, könnten die Hamburger übrigens bei Huub Stevens erfragen. Der 63-Jährige, der vor einem Jahr seine Trainerkarriere beendete, war vor zehn Jahren der letzte HSV-Coach, der in München gewinnen konnte.