Der Ruf nach mehr freier Zeit – und was es wirklich damit auf sich hat

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen: Während vor einigen Jahren viele von der „Freizeitgesellschaft“ fabulierten, sieht die Realität heute anders aus: Die Digitalisierung hebt die Schranken zwischen trautem Heim und Büro auf. Die wöchentliche Arbeitszeit ist in vielen Branchen gestiegen, auch wenn in den Tarifverträgen – so es denn noch welche gibt – eine niedrigere Stundenzahl verankert ist. Wer arbeitet, hat inzwischen nicht mehr, sondern weniger Freizeit als in der „Spaßgesellschaft“ der 1990er-Jahre. Tempi passati.

Weil der Arbeitsdruck enorm gestiegen ist, rufen die Gewerkschaften jetzt: Feierabend! Ein oder zwei zusätzliche Feiertage pro Jahr sollen den Arbeitnehmern mehr Erholung bringen, fordern sie. Dabei ist es den Gewerkschaftlern egal, ob es sich um religiöse Feier- oder weltliche Gedenktage handelt, die den Anlass für einen neuen, gesetzlich verankerten Feiertag bieten könnten. Hauptsache, es gibt mehr Pausen vom Arbeitsalltag als bisher. Zumal der Norden mit neun gesetzlichen Feiertagen weniger gesegnet ist als Süddeutschland mit zwölf und mehr.

Der Gewerkschaftsvorstoß passt optimal zur florierenden deutschen Wirtschaft mit erstmals mehr als 43,5 Millionen arbeitenden Menschen. Auch für dieses Jahr rechnet die Bundesregierung mit einem positiven Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent.

Wer allerdings weitere gesetzliche Feiertage nur deshalb einführen will, um die digitalen Fließbandarbeiter und dauergestressten Führungskräfte vom Arbeitsdruck zu entlasten, liegt falsch. Feiertage, die übrigens von den Landesparlamenten beschlossen werden müssen, bedeuten mehr als „freie Tage“ mit nicht immer garantiertem Erholungsfaktor.

Es geht um die große Geschichte, um Traditionen und Erfahrungen, die ganze Generationen von Menschen prägten und deren Bewahrung für die Nachgeborenen wichtig ist. So sind Feiertage dazu da, um die Bürger eines Landes mitten im Lauf der Zeit einen Tag lang zu synchronisieren: Die Uhren gehen langsamer, das öffentliche Leben ruht.

Am 3. Oktober zum Beispiel schauen alle zurück auf das Wunder der Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Trauma des Zweiten Weltkrieges. Prägekraft haben noch immer die kirchlichen Feiertage, die den Jahreskreislauf strukturieren und nicht zuletzt auch das Familienleben. Zu Weihnachten erzählen wir uns die wichtigste Gründungsstory des ganzen Jahres und feiern die Familie.

Zu Recht sind der 1. und 2. Weihnachtstag gesetzlich geschützt. Ihre Funktion liegt nicht nur darin, ein paar freie Tage zu haben und „Happy Holidays“ zu erleben (wie es sich die Amerikaner zu diesem Fest wünschen). Der Zweck liegt darin, die Keimzelle der Gesellschaft – die Familie – wertzuschätzen. Und zu Ostern feiern die Christen die Auferstehung Jesu und damit den Sieg des Lebens über den Tod. Deshalb ist der Ostermontag gesetz­licher Feiertag.

Es geht also um mehr als nur um einen zusätzlichen freien Tag pro Jahr. Es geht um Sinn, den ein Feiertag schafft und zelebriert. Die Hamburger Bürgerschaft hat den diesjährigen 31. Oktober einmalig zum arbeitsfreien Tag erklärt. Damit würdigt sie das 500. Reformationsjubiläum Martin Luthers. Dieser Tag erzählt vom Aufstand des Gewissens gegen mächtige Autoritäten und hat das Potenzial der Sinnstiftung. Vielleicht ist er bald ein ständiger Feiertag in Hamburg.