Wutbürger machen gegen G20 und OSZE mobil – sind sie gegen Diplomatie und Völkerverständigung?

Kanzlerin Merkel gehört nicht zu den ganz großen Rhetorikerinnen, aber einige Sätze wird sie im Geschichtsbuch verewigen. Das Internet nannte sie etwa 2013 noch „Neuland“, eine konfuse Flüchtlingspolitik erklärte sie fröhlich mit drei Worten („Wir schaffen das“). Im September machte sie eine Wortneuschöpfung populär: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“

Wo sie recht hat, hat sie recht. Wie postfaktisch die Zeiten sind, haben der Brexit und die Trump-Wahl bewiesen – nie zuvor war in diesen großen Demokratien die Wahrheit so randständig und die Lüge allgegenwärtig. Ganze Gruppen haben sich in eine Scheinwelt verabschiedet, die nicht von Fakten getrübt wird und in der Facebook gefühlte Wahrheiten frei Haus liefert. Rechte Populisten sind die großen Gewinner im postfaktischen Zeitalter.

Allerdings lieben auch viele Linke ein Leben ohne Fakten. Wenn man sieht, mit welchem Furor einige Weltverbesserer derzeit gegen G20 und die OSZE-Konferenz ankämpfen, darf man staunen. Und dabei sind nicht nur die Verrückten gemeint, die Brandanschläge oder Gewalt in einer Demokratie für Argumente halten. Sondern auch die ganze Widerstandsfolklore, die zwar viele kluge Gedanken formuliert, aber übersieht, dass sie sich leider an den falschen Adressaten richtet.

Man könnte angesichts der Klagelitaneien und der drohenden Polizeigroßeinsätze den Eindruck bekommen, ab Donnerstag treffen sich dunkle Mächte in der Hansestadt und im Juli dann das Böse schlechthin. Lauscht man einigen Linken, denkt man, in Hamburg stehe das Welttreffen der Kapitalverbrecher, des Ku-Klux-Klan oder der Klingonen an. Postfaktisch eben. Die Fakten: Die OSZE ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, früher KSZE genannt. Das war ein Meilenstein im Kalten Krieg, plötzlich redete man mitein­ander über Frieden und vertrauensbildende Maßnahmen. G20 wiederum ist eine Alternative zum zu Recht kritisierten „Club der Mächtigen“, der G7. Die G20 bringen Industrie- und Schwellenländer von allen Kontinenten zusammen, die Zusammenkunft repräsentiert 90 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, 80 Prozent des globalen Handels und zwei Drittel der Bevölkerung. Ihre Themen sind Korruptionsbekämpfung, Flüchtlingshilfe, Entwicklungspolitik, Welthandel.

Die Linke aber „lehnt die G20 und ihr Treffen, das Hamburg in den Ausnahmezustand stürzen wird, nicht einfach nur ab“, erklärten die Fraktionsvorsitzenden Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir. Nein: „Wir wollen auch demokratisch legitimierte Alternativen zur G20 stärken.“ Die Kritik überrascht: Wladimir Putin kommt doch auch – neben vielen anderen demokratisch gewählten Staatschefs. Aber in ihrer Wut gegen die da oben schwenkt die Linke eher auf Trump-Linie: „Wie dumm ist es, so ein Mammuttreffen in der Mitte einer Großstadt zu organisieren – und Sie werden schon ihr blaues Wunder erleben, wenn die Menschen auf die Straßen gehen“, sagte Özdemir in der Bürgerschaft. Bei der nächsten Mai-Demo in der Mitte einer Großstadt sollte sie sich dieser Worte erinnern.

Ziemlich drollig ist auch, dass die Systemgegner klare Forderungen an das System haben, etwa „Hamburger Senat muss Raum für G20-Aktionskonferenz zur Verfügung stellen“ – auch wenn dabei Verfassungsgegner mitmischen.

Weil wir gerade bei Wutbürgern sind: Da findet in der Hansestadt, die sich narzisstisch wahlweise als „Weltstadt“ wähnt, als „Tor zur Welt“ oder „schönste Stadt der Welt“, zum ersten Mal eine Weltkonferenz statt. Und wie reagieren viele Hamburger? Sie sehen nicht die großen Linien, sondern das ganz kleine Karo. Sie maulen schon im Vorfeld über Straßensperrungen, Verkehrsbehinderungen, Umsatzeinbußen. Man möchte seine Ruhe und wünscht die Konferenzen in die Provinz.

Dabei: Vielleicht finden die Gipfel ja doch in der Provinz statt.