Der verstorbene Bürgermeister wird zu Recht hoch gelobt. Seine Ratschläge bleiben wichtig – auch zu Russland

Es ist eine jahrtausendealte Tradition, über Tote nur Gutes zu berichten. „De mortuis nihil nisi bene“, wussten schon die Römer – und die hatten ihre Weisheit bei den alten Griechen abgeschaut. Beim verstorbenen Bürgermeister Henning Voscherau, der die Stadt von 1988 bis 1997 und damit so lange wie kein anderer nach dem Zweiten Weltkrieg regierte, ist der Ratschlag nicht nötig. Sein Wirken für die Stadt – die HafenCity, Elbvertiefung und Airbus-Erweiterung, die Rathaus-Sanierung oder die Befriedung der Hafenstraße – wird parteiübergreifend anerkannt.

Ein Punkt aber, der Voscherau stets umtrieb, bleibt in vielen Nachrufen höflich ausgeblendet, weil er derzeit politisch nicht opportun oder korrekt erscheint – die (kritische) Partnerschaft mit Russland. Noch vor wenigen Wochen warb der Hanseat in einer Mail an den Verfasser dieser Zeilen darum, das deutsch-russische und das Hamburg-St.Petersburg-Verhältnis verdiene mehr Aufmerksamkeit. Wie recht er hatte!

Manchmal wundert man sich über die Geschichtsvergessenheit vieler Zeitgenossen. Deutschland und Russland – da war doch was. Das „Unternehmen Barbarossa“ jährte sich zum 75. Mal: Im Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Damit begann ein Feldzug, der von Beginn an als Vernichtungskrieg geplant war. Erschießen, Massakrieren, Terrorisieren, Aushungern lauteten die Strategien des NS-Staates: Sie wollten für ihre perverse Idee des „Lebensraums im Osten“ ein ganzes Land in einen Friedhof verwandeln. 3,3 Millionen russische Kriegsgefangene ließen die Deutschen verhungern oder zu Tode schuften. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Opfer dieses verheerenden Krieges auf bis zu 27 Millionen Menschen. Der Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst spricht zu Recht von einem „Beginn des Holocaust“.

Es ist ein Massenmord, der uns entfallen und in unserem Bewusstsein verdrängt ist. 50 Jahre lang lagen in Zeiten des Kalten Krieges die Untaten unter einem Mantel des Schweigens, bis zur Wende stand der Feind im Osten, da blieb Völkerverständigung hüben wie drüben eher eine Worthülse denn Ziel. Erst die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung 1995 öffnete vielen im Westen die Augen für die eigenen Untaten. In der „Süddeutschen“ hat Altkanzler Gerhard Schröder an die deutsche Verantwortung erinnert. „Nur vor dem Hintergrund von 1941 lassen sich die Einkreisungsängste Russlands verstehen.“

Aber auf Schröder mag kaum einer hören. In Deutschland gilt der Begriff „Putin-Versteher“ als Schimpfwort. Jeder Islamist darf sich zum Opfer stilisieren und bekommt Zustimmung, der Russe aber ist rasch der Täter. Wie in den finsteren Zeiten des Kalten Krieges ist ihm offenbar alles zuzutrauen: Da hat Putin die Hooligans zur EM geschickt und die Olympiasieger persönlich gedopt. Er ist der Teufel, der den Deutschen aus Kalkül kriminelle Flüchtlinge schickt und die vermeintlich kreuzehrlichen Assad-Gegner hinterrücks bekämpft. „Bild.de“ rückt Putin gar in die Nähe zu Adolf Hitler. Wehe, SPD-Politiker werben um Verständnis für die Russen – dann überbieten sich Union und Grüne in einem Empörungswettlauf. Vielleicht versteht die Facebook-Generation Diplomatie nicht – es geht nicht um Selbstdarstellung, sondern um Brückenbau, nicht um Beifall der Freunde, sondern um Verständnis auch für Gegner. Natürlich ist Kritik erlaubt. Keiner kann die Annexion der Krim oder die Entdemokratisierung in Russland gutheißen. Aber im Dialog, der stets der Kern der Entspannungspolitik war, lassen sich Probleme eher lösen. Putin ist kein „lupenreiner Demokrat“, aber auch kein neuer Stalin. Selbst mit dem Iran hat der Dialog zu einer Einigung im Atomkonflikt geführt und die Sanktionen beendet. Gegenüber Russland wurden die Handelsverbote gerade wieder verlängert.

Als im Juli der wichtige Petersburger Dialog anstand, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert ab – Olaf Scholz reiste an seiner Stelle in Hamburgs Partnerstadt, um dort eine mutige wie klare Rede zu halten. „Einen neuen Kalten Krieg kann sich niemand leisten“, sagte Scholz. Der Satz hätte auch von Voscherau stammen können.