Es gibt auch mutige Unterstützer der freiheitlichen Werte – sogar beim Tabuthema Homosexualität.
Es ist ein Tabubruch, der Hoffnung macht: Am Sonnabend hat die Türkische Gemeinde Baden-Württemberg mit einer eigenen Gruppe an der Parade des Christopher Street Day in Stuttgart teilgenommen – als erste in Deutschland. Die Gemeinde will damit das in ihrer Klientel immer noch verbreitete Tabuthema Homosexualität angehen, erklärte der Bundesvorsitzende Gökay Sofuoglu. Auch in Hamburg wird die Türkische Gemeinde erstmals den CSD unterstützen. Sie nimmt nicht nur an mehreren Veranstaltungen des Hamburg Pride, sondern auch an der Parade am kommenden Sonnabend teil. Aus Sicht des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland (LSVD) haben diese Vorstöße „Pilotcharakter“. Dass eine „Mainstream-Organisation“ wie die Türkische Gemeinde sich beteilige, sei etwas ganz Besonderes, sagte ein LSVD-Sprecher in Berlin.
Warum ich das schreibe? Weil solche Nachrichten nicht untergehen dürfen in Wochen, in denen das deutsch-türkische Verhältnis so strapaziert ist wie selten zuvor. Zur Zeit nutzt der türkische Präsident Erdogan nach dem gescheiterten Putsch die Gunst der Stunde, um die für ihn enorm wichtige türkische Community in Deutschland auf sein politisches Rollback zu verpflichten. Die ist groß: 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass leben hier, etwa drei Millionen haben türkische Wuzeln. Nur gehen tiefe Risse durch diese Community. Zu ihr gehören auch 600.000 bis 800.000 Kurden und etwa 500.000 Aleviten, die in der Türkei verfolgt oder diskriminiert werden.
Der Konflikt zwischen Kurden, dem konservativ-frommen Pro-Erdogan-Flügel und laizistischen Kemalisten hat sich auch bei uns vertieft. Wenn türkische Frauenrechtlerinnen, Autoren oder Abgeordnete Tabu-Themen aufgreifen, ernten sie Hasstiraden und oft sogar Morddrohungen aus dem türkischen Publikum. Darüber hinaus gehen Risse mitten durch viele Familien. Ein Teil der jüngeren, in Deutschland Geborenen, ist gut integriert, ein anderer Teil fühlt sich abgehängt und zeigt eine restaurative Anti-Haltung gegen „deutsche“ Lebensstile, Freiheiten und Werte. Die es in Wahrheit längst auch in Istanbul gibt (bisher). Und zum Kern dieser modernen Freiheiten gehört freie Sexualität.
Szeneviertel wie St. Georg in Hamburg, Schwab in Stuttgart oder Kreuzberg in Berlin sind Freilandlabors für den Zusammenprall von Kulturen. Hier herrscht nicht nur eitel multikulturelle Wonne. Vor Jahren hatten zwei hoffnungsfrohe Redakteure des Hamburger Schwulenmagazins „hinnerk“ die tolle Idee, mal bei türkischen Geschäftsbesitzern in St. Georg herumzufragen: „Was würden Sie tun, wenn Ihr Sohn schwul wäre?“ Nicht wenige antworteten: „Erschießen.“ Händchenhaltende schwule Pärchen wurden nahe der Centrums-Moschee angepöbelt. Einen von dem Grünen Farid Müller initiierten Stadtteildialog zum Thema „Schwule, Lesben und Muslime“ sagte der Moscheevorstand in zweiter Runde wieder ab. Auch in Berlin-Kreuzberg gab es immer mal wieder Übergriffe auf Schwule.
Es nützt überhaupt nichts, Frauen- und Schwulenverachtung unter Migranten durch eine rosarote Brille einfach auszublenden. Aber: Gerade in den Szenevierteln werden auch die Alternativen gebaut. Der Hamburger CSD hat sich nicht provozieren lassen, sondern in St. Georg auf gute Nachbarschaft gesetzt. In Stuttgart startete die Türkische Gemeinde das Projekt „Kultursensibel“ mit Beratungsangeboten für „sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“. Geduld und Aufklärung zahlen sich aus.
Auch in der türkischen Community werden alte Traditionen und vermeintlich gusseiserne religiöse Prinzipien in- frage gestellt. Und mal ehrlich: Wie lange hat es denn unter Deutschen gedauert, bis Schwule und Lesben gleichgestellt wurden? Bis es normal war, dass Bürgermeister in Hamburg oder Berlin schwul sein können?
Freiheit heißt nicht nur, für Erdogan demonstrieren zu können. Freiheit ist nicht zu haben ohne sexuelle Vielfalt. Deshalb kann man die CSD-Entscheidung der Türkischen Gemeinden in Hamburg und Baden-Württemberg gar nicht hoch genug einschätzen.