Der Amoklauf von München trifft auf eine verunsicherte Gesellschaft. Wir müssen damit leben lernen.
Es ist ein Sommer des Schreckens. In Nizza tötet ein terroristischer Amokfahrer 84 feiernde Menschen mit einem Lkw, in einem Zug nahe Würzburg schlägt ein 17 Jahre alter Flüchtling mit einer Axt auf Reisende ein und verletzt vier von ihnen schwer, in München erschießt ein 18-Jähriger neun Menschen, in Reutlingens Innenstadt mordet ein Mann mit einer Machete. In wenigen Sommertagen passieren mehr Dramen als früher in einem Jahr. Die Welt ist, wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor Monaten sagte, aus den Fugen geraten. Was gibt in diesen Tagen Trost, was Halt? Wie lindern wir die Angst? Wer hat Lösungen parat?
Es ist 23 Jahre her, da schrieb Deutschlands großer Intellektueller Hans Magnus Enzensberger ein kleines wie düsteres Buch. Es hieß „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ und hob sich ab vom Optimismus dieser Tage nach Mauerfall und Wiedervereinigung, als einige Geistesgrößen schon vom „Ende der Geschichte“ philosophierten. Enzensberger hingegen beschreibt den „molekularen Bürgerkrieg“, der längst auch bei uns Einzug gehalten hat. „Seine Metastasen gehören längst zum Alltag der großen Städte ... Geführt wird er nicht nur von Terroristen und Geheimdiensten, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, Neonazis und Schwarzen Sheriffs, sondern auch von unauffälligen Bürgern, die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln. Wie in den afrikanischen Kriegen werden diese Mutanten immer jünger.“
Enzensberger schrieb dies unter dem Eindruck der rassistischen Angriffe in Rostock-Lichtenhagen und der Mordbrenner von Lübeck und Solingen, aber weit vor den Amokläufen von Erfurt, Winnenden und nun eben München. „Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, es herrsche Frieden, nur weil wir immer noch unsere Brötchen holen können, ohne von Heckenschützen abgeknallt zu werden“, so Enzensberger weiter. Damals schüttelten viele den Kopf über diese negative Weltsicht und lachten über den Philosophen.
Heute lacht niemand mehr. „Der Bürgerkrieg kommt nicht von außen, er ist kein eingeschleppter Virus, sondern ein endogener Prozess. Begonnen wird er stets von einer Minderheit; wahrscheinlich genügt es, wenn jeder Hunderte ihn will, um ein zivilisiertes Zusammenleben unmöglich zu machen. Noch gibt es in den Industrieländern eine starke Mehrheit von Leuten, denen der Frieden lieber ist. Unsere Bürgerkriege haben bislang nicht die Massen ergriffen; sie sind molekular. Sie können aber jederzeit eskalieren … und zum Flächenbrand werden“, so Enzensberger.
Der Münchner Amoklauf war vorübergehend eine solche Eskalation. Ein einziger Irrer genügte, eine Millionenstadt für mehrere Stunden ins Chaos zu stürzen, Angst und Schrecken zu verbreiten. Die minütlichen Live-Ticker der Nachrichtenportale und die sozialen Medien haben die beispiellose Hysterie geschürt – immer neue Tatorte wurden über Twitter genannt, immer neue Gerüchte gestreut, Bürgerkriegs-Trittbrettfahrer raunten von immer neuen Schießereien. Die Mahnung der Polizei, keine Videos oder Bilder von Einsatzkräften online zu stellen, verpuffte; eine Stadt fiel in den Panikmodus. Zwischen 18 und 24 Uhr zählte die Münchner Polizei 4310 Notrufe – das Vierfache eines normalen Tages. Zwischenzeitlich musste man glauben, es werde nicht nur am Olympia-Einkaufszentrum, sondern auch am Stachus, am Marienplatz, in einem Kino am Isartorplatz, beim Alternativ-Festival Tollwood und nahe der Münchner „Abendzeitung“ geschossen. Die Saat der Gewalt und der Angst, welche die Teufelskrieger des „Islamischen Staates“ in der Welt gesät haben, sie ging in diesen Minuten auf. Ihre Drohung, die Ungläubigen würden sich niemals mehr sicher fühlen, wird wahr. Denn sie benötigen nicht einmal mehr eigene Kämpfer, schon ein Irrer in den Straßen des Westens kann ausreichen.
Weltweit berichteten Medien und schickten ihr Halbwissen und Wissen durch das weltweite Netz, hinzu kamen die Lügen selbst ernannter Reporter in den sozialen Netzwerken, die andere für bare Münze nahmen, und hemmungslose Videos von schaulustigen Handy-Reportern. Gerüchte ersetzten Fakten. Wenn aber jeder zum Sender wird, brennen kollektiv die Nerven durch. Schöne neue Medienwelt? Wer das glaubt, kann auch die Krankenhäuser schließen und die ärztliche Versorgung dem Netdoktor und Krankheitsforen überantworten.
Manchmal wünschte man sich, Medien könnten über die Taten von Amokläufern schweigen. Ohne es zu wollen, betreiben sie Propaganda für die Taten, laden Nachahmungstäter ein oder verbreiten menschenverachtende Botschaften in jedes Haus. Aber wie sollen die Medien schweigen, wenn alle schreien? Bei Selbstmördern gilt der alte journalistische Grundsatz, nicht zu berichten, weil schon eine Kurzmeldung Lebensmüde zur Tat ermutigt.
Bei Amoktätern ist es nicht anders, und doch bekommen sie die maximale Öffentlichkeit. Der kleine Ali David S. aus München ist nun weltberühmt – in US-Stadien wurde seiner Opfer gedacht, der Pariser Eiffelturm erstrahlte in Schwarz-Rot-Gold. Das sind Solidaritätsbekundungen, die guttun – aber letztlich auch missverstanden werden können. Wenn es den Tätern darum geht, mit einem Fanal aus dem Leben zu scheiden, ihren eigenen Minderwertigkeitskomplex in vermeintliche Größe zu verwandeln, bekämen sie am Ende noch mehr als die verdammten „15 Minuten Ruhm“, von denen Andy Warhol sprach.
Gewalttaten – ob vom selbst ernannten „Islamischen Staat“ oder von einsamen Amokkillern – üben auf viele einen diabolischen Reiz aus. Katastrophenfilme, bei denen sich sonst Millionen wohlig gruseln, gehören zu den beliebtesten Genres überhaupt – zumindest bis heute, wo der Plot dieser Filme in den Innenstädten Wirklichkeit wird. Weiterhin sterben an jedem Abend mehr Menschen im deutschen Fernsehen durch Mord und Totschlag als in einem Monat in der Realität. 296 Menschen wurden 2015 in Deutschland ermordet – das schafft Hollywood in 90 Minuten. Es ist eine seltsame Nähe und Ferne zur Gewalt: Jede Schulhofprügelei wird zum Fall für die Behörde und eine Armada von Sozialarbeitern – auf Leinwänden aber kann es gar nicht brutal und blutig genug zugehen. Das darf man gern etwas gründlicher diskutieren, bevor nun wieder die Debatten über Gewaltvideos und Ego-Shooter beginnen.
Indes: Gewalt und der Wille zum Krieg sind Teil der menschlichen Kultur, den die Zivilisation nur einzuhegen vermag. Die Gefahr dieser Tage ist die Eskalation und die Gleichzeitigkeit: Amokläufe gab es schon immer, sie blieben aber erschütternde Einzelfälle. Amokläufe in Zeiten des Terrors verstören ganze Länder und Kontinente: Sie verbreiten das Gift der Angst in der Zivilisation.
Für die Deutschen ist dieser Sommer des Schreckens besonders schlimm. Lange wähnten wir uns auf einer Insel der Seligen, was sich spätestens seit Würzburg als Illusion entpuppt hat. Zudem sind viele Menschen seit Monaten aufgewühlt und verunsichert, wozu die Flüchtlingskrise und die Öffnung der Grenzen beigetragen haben. Diese Fehlentscheidung, so groß sie humanitär gedacht war, hat die Demokratie hierzulande erschüttert – sie hat die ganz Rechten stark gemacht und zuvor Gemäßigte in die Arme der Radikalen getrieben; sie hat den ganz Linken Oberwasser gegeben, als ihre alten Slogans von „Refugees welcome“ zum Gemeingut selbst der „Bild“-Zeitung wurden. Und weil viele Deutsche den politischen Streit fast verlernt hatten, eskaliert nun die Debatte und radikalisiert Menschen bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Viele wähnen sich in einem Land, das immer schlechter wird.
Man muss sich nur einige Internetdebatten anschauen, die zu München geführt wurden, um das Ausmaß von Panik, Fremdenfeindlichkeit und Politikverachtung zu erkennen. Die „German Angst“, sie kehrt zurück. Nicht alles darf man als Hysterie abtun: Dass schon 18-Jährige sich im Internet Waffen kaufen können, zeigt die Gefahr.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, wie Friedrich Hölderlin dichtete. Immerhin hat München auch die Augen geöffnet. Die Stadt hat eine breite Solidarität gelebt, die viele nicht für möglich hielten: Unter dem Motto „offene Tür“ haben Kirchen und Moscheen, Privatleute und Wirte ihre Häuser für Gestrandete geöffnet, als kein Bus, keine Straßenbahn, kein Zug mehr fuhr. Zugleich haben viele einen neuen Blick auf die Polizeibeamten gewonnen, die eine ihrer härtesten Nächte hinter sich haben. Die viel und oft zu Unrecht Geschmähten, die laut Beschimpften und gern Hinterfragten haben Ordnung ins Chaos gebracht und einer zutiefst verunsicherten Stadt Sicherheit zurückgegeben. Auch das internationale Echo, das Mitfühlen und das Beileid aus vielen Staaten spendete Trost. Und trotz des Chaos: München hat insgesamt funktioniert: die Kliniken, die Behörden, die Politik.
Mit jedem Anschlag, mit jeder Untat wächst die Erkenntnis, dass es keine absolute Sicherheit geben kann. Wir werden uns an etwas gewöhnen müssen, an das man sich nicht gewöhnen will. Vielleicht hilft ein fröhlicher Fatalismus: Wir dürfen uns nicht beirren lassen, nicht in Angst erstarren. Die Bilder etwa von der Schwulenparade Christopher Street Day in Berlin – nur wenige Stunden nach dem Münchner Amoklauf – waren das bunte und passende Bekenntnis: jetzt erst recht!
Auch die Politik – abgesehen von einigen unappetitlichen AfD-Beiträgen – hat besonnen reagiert. Allerdings sollte man auch nicht auf den voraufklärerischen Kitsch hereinfallen, der nun schon wieder durch viele Kommentarspalten geistert: Es ist ein Fehler, stets die Gesellschaft für die Untaten eines Kranken in Haftung zu nehmen und die Schuld wieder bei anderen als dem Täter zu suchen. Die Schule, die Eltern, die Behörden haben vielleicht Fehler gemacht. Aber der Täter bleibt der Täter. Schon Thomas Hobbes hatte erkannt, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, homo homini lupus.
Die bittere Erkenntnis spätestens nach Nizza, Würzburg und München lautet: Der Mensch ist nicht von Natur aus gut, die Verbrechen hören nicht auf, die Gefahr gehört zum Leben – mehr als je zuvor. Wir fahren Auto, Motorrad, Ski, obwohl wir um die Gefahren wissen, reisen, rauchen, saufen – in vielen Bereichen kennen wir das Restrisiko und leben damit. Mit Terror und Amok ist es ähnlich. Eine freie Gesellschaft muss sie bekämpfen, wo immer es geht, verhindern aber kann sie sie nicht.
Schon Friedrich Nietzsche wusste: Nur Barbaren können sich verteidigen. Ist das ein Trost? Vielleicht.