Vor der EM wurde über alles rund um den Fußball diskutiert – außer über den Fußball. Doch der rollt nun. Endlich

Das erste Mal ist immer etwas Besonderes. Sagt man. Stimmt aber nicht. Das erste Mal tut vor allem weh. Verdammt weh. Und man vergisst es nicht.

Das erste Fußball-Erlebnis, an das ich mich bewusst erinnern kann, ist schon lange her. Es war Europameisterschaft. Halbfinale. Deutschland gegen die Niederlande. In Hamburg. Ich war acht Jahre alt und habe mich vor dem Spiel mit meiner Mutter darüber gestritten, ob ich das Spiel (Anpfiff: 20.15 Uhr) bis zu Ende im Fernsehen gucken durfte. Dann kam mein Vater dazu – und ich durfte. Nach 55 Minuten schoss Lothar Matthäus das 1:0. Ein Elfmeter. Ich war im siebten Himmel. Fußball kann so großartig sein. Knapp 20 Minuten später foulte Jürgen Kohler Marco van Basten. Wieder Elfmeter. Ronald Koeman trat an – und traf. 1:1. Und dann kam der Moment, den ich nie vergessen werde: Sekunden vor dem Schlusspfiff hatte wieder Marco van Basten den Ball, wieder kam Jürgen Kohler zu spät. 2:1 für die Niederlande. Und Abpfiff. Fußball kann so grausam sein.

28 Jahre ist das nun alles her. Und man kann wahrscheinlich sagen, dass ich den Schock mittlerweile verdaut habe. Wer sich tagtäglich mit dem HSV beschäftigt, ist Kummer gewohnt. Und doch bleibt diese Episode vom 21. Juni 1988 immer in meinem Hinterkopf gespeichert. Es ging damals um Fußball. Um nichts anderes. Nicht um Prämien, Politik, Ablösesummen, Sicherheit oder TV-Rechte. Nur um Fußball.

An diesem Freitag geht es also wieder los. Die Europameisterschaft. Diesmal in Frankreich. 24 Mannschaften. Den Anfang machen der Gastgeber und Rumänien. Deutschland hat sein erstes Spiel am Sonntag. Gegen die Ukraine. Dann die Polen. In Paris. Ausgerechnet Paris. Ausgerechnet in dem Stadion, das während des Freundschaftsspiels zwischen Frankreich und Deutschland vor sieben Monaten zum Ziel des Terrors wurde.

Es wurde in den vergangenen Wochen viel über alle möglichen Themen rund um den Fußball diskutiert. Über die törichten Aussagen eines merkwürdigen Politikers der AfD. Über den neuen Fernsehvertrag. Über den epischen Wolkenbruch in Augsburg. Über noch dümmere Aussagen des immer noch merkwürdigen Politikers der AfD. Über die astronomischen Ablösesummen aus England. Oder war es China? Oder doch nur Wolfsburg? Vor allem ging es aber um die Sicherheitslage. Die Sicherheit in Frankreich, in Paris, in den Stadien.

Keine Frage, das alles sind wichtige Themen. Vielleicht mit der Ausnahme der eben charakterisierten, unmöglichen Aussagen. Und weil das alles so wichtige Themen sind, habe ich an dieser Stelle vor zwei Wochen geschrieben, dass die DFB-Auswahl mehr als eine Fußballmannschaft ist. Natürlich ist sie das. Aber, und das ist der Punkt, am Ende ist sie eben auch: eine Fußballmannschaft.

In den kommenden vier Wochen geht es also auch: um Fußball. Um Zlatan Ibrahimoics nächsten Geniestreich. Um den perfekten Pass von Toni Kroos. Um einen unverschämten Sprint von Kingsley Coman. Um Mesut Özils Ballbehandlung. Um Pepes fiese Grätschen. Um Manuel Neuers Torwartparaden. Um Ronaldos nächstes Tor, das so herausragend ist, dass man am liebsten nach Hause rennt und ein Kind zeugt, um ihm später von diesem Tor zu erzählen. Es geht um verteidigende Italiener, stürmende Belgier, hin und her passende Spanier. Und hoffentlich siegreiche Deutsche.

Endlich EM. Am Morgen nach einem Länderspiel dürfen nun wieder 80 Millionen Bundestrainer darüber diskutieren, ob es richtig oder falsch war, mit Dreier-, Vierer- oder Fünferkette gespielt zu haben. Warum musste der Götze von Anfang an auflaufen? Und wie kann man nur den Schweinsteiger draußen lassen? Natürlich wird es eine Debatte über Führungsspieler geben. Und eine andere über den Videobeweis. Vier Wochen lang diskutiert ganz Europa über alle Themen rund um den Fußball. Aber eben auch über Fußball.

Ich freue mich auf die EM. 24 Mannschaften, 51 Spiele, ein Titel. Und allen Achtjährigen sei gesagt: Die Niederlande sind diesmal nicht dabei.

Fußball kann so großartig sein.