Anspruch auf Mindesturlaub, kostenlose Bildung, gesundes Essen in der Schulkantine – US-Filmer präsentiert den alten Kontinent als Vorbild.

Michael Moore ist ein Dokumentarfilmer, der so gemütlich daherkommt, dass man ihn gerne mal zum Kaffee einladen möchte. Dann würde der sympathische Herr mit Baseball-Käppi auf seine unnachahmliche Weise in die Küche wackeln und sehr direkte Fragen stellen wie „Was verdienen Sie?“, „Essen Sie viel Fleisch?“ oder „Rauchen Sie Gras?“. Und man würde sie ihm glatt beantworten.

Das funktioniert überall, wie sein neuer Film „Where to Invade Next?“ zeigt, der gerade angelaufen ist. In welches Land die USA als nächstes einmarschieren könnten, ist natürlich eine rhetorische Frage, aber Moore marschiert als Ein-Mann-Armee schon mal vor und sondiert das Terrain – „keine Gefangenen, keine Gefallenen, keine posttraumatischen Störungen“. Statt um Ressourcen oder Landmasse geht es ihm um Ideen, die sich für daheim erbeuten lassen.

Diesmal nimmt sich Moore Europa vor. In Italien stellt er überrascht fest, dass Arbeitnehmer Anspruch auf acht Wochen Urlaub im Jahr und Elternzeit haben (in den USA ist ein gesetzlicher Anspruch auf Mindesturlaub unbekannt). In Slowenien staunt er, dass Studierende sich nicht verschulden müssen, weil die Uni umsonst ist. In Norwegen untersucht er den offenen Strafvollzug, in Portugal die liberale Drogenpolitik. In Island hört er, dass man nach der Bankenkrise ganz andere Konsequenzen als in den USA gezogen hat. In Frankreich besucht er eine Schulkantine, in der die Kinder täglich ein gesundes Vier-Gänge-Menü bekommen und trotzdem nicht fett sind.

Dass es auch in diesen Ländern Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit gibt, weiß Moore natürlich. Er hätte gezielt auch die Pariser Vororte, Inseln wie Lesbos oder Lampedusa oder Flüchtlingsunterkünfte wie in der Schnackenburgallee besuchen können. Aber er betrachtet nicht das Unkraut, sondern die „Blumen“ auf dem alten Kontinent, in dem vieles sehr anders ist als in den USA: das Schulsystem, die Mitbestimmung, der Strafvollzug und sogar das Essen. Er möchte den Finger in offene Wunden seines Landes legen, erst recht jetzt im Wahlkampf, wenn Präsidentschaftskandidat Donald Trump Slogans wie „Make America Great Again“ heraus­trötet und Maßnahmen vorschlägt, für die sich sogar republikanische Parteigenossen schämen (Internet dichtmachen, freier Zugang zu Waffen für alle). Moore will nicht anderen Ländern den „American Way of Life“ überstülpen, er geht den umgekehrten Weg: Von dem, was in Europa besser funktioniert, können die USA was lernen.

Zwar richtet sich der Film zunächst an amerikanische Zuschauer, er findet aber auch in Europa ein interessiertes Publikum. Auf Moores Facebook-Seite liefern sich Amerikaner, Norweger, Franzosen, Deutsche, Briten und Italiener lebhafte Diskussionen über Lebensqualität und Sozialstandards. Für viele Europäer dürfte der Film gerade im Moment eine phänomenale Entlastungswirkung haben: Endlich wird Europa mal nicht auf die böse EU, auf die Flüchtlingskrise, auf Streit und Ausbrecher wie Großbritannien oder Polen reduziert, sondern jemand würdigt Europas politische und soziale Errungenschaften. Die hatten wir ja beinahe ganz vergessen über Clausnitz und Gräfenhainichen, Pegida und Bea­trix von Storch, über dem Abriss des Flüchtlingscamps bei Calais, der Eskalation an der griechisch-mazedonischen Grenze, über dem „Asylpaket“ und dem propellerartig über allem schwebenden Horst Seehofer, der sich um die eigene Zukunft sorgt und deshalb den ausdauernd krachledernen „Kanzlerinnenvernichter“ (FAZ) gibt.

Die Botschaft des Films ist stellenweise zu einfach. Aber er stiftet dazu an, Europa mal von einer anderen Warte aus zu sehen. In Deutschland würdigte Moore übrigens vor allem den Umgang mit der Vergangenheit. Es ist doch komisch: Vor 60 Jahren waren es neben den Briten die Amerikaner, die ein demokratisches Pressesystem und den Grundsatz der Meinungsfreiheit in Deutschland verankerten. Die USA galten als zuverlässiger Fortschritts-Exporteur. Heute frage ich mich, ob der Tiefpunkt der US-Politik mit George W. Bush eigentlich schon erreicht war. Den Begriff Fortschritt messen wie lieber an europäischen Maßstäben. Das ist schwierig genug.