Viele Medien haben in der Flüchtlingsfrage Euphoriejournalismus betrieben. Nun legen die ersten eine Kehrtwende hin

Ein Blick über die Grenzen weitet das Gesichtsfeld. Da wird den Deutschen nicht entgehen, dass sie mit ihrer Refugees-Welcome-Party in Europa mutterseelenallein stehen. Politiker äußern sich befremdet bis entsetzt über Merkels Kurswechsel und ausländische Journalisten wundern sich über ihre deutschen Kollegen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ etwa hat kürzlich „Berichterstatter als Stimmungsmacher“ ausgemacht, die sich einen „Überbietungswettbewerb um Empathie und Willkommenseuphorie“ liefern. Der Publizist Roland Tichy warnt bereits, aus der Flüchtlings- werde eine Medienkrise.

Bevor Pegida-Sympathisanten sich in ihrem Zerrbild der Lügenpresse bestätigt sehen, sei klargestellt: Die deutsche Medienlandschaft ist vielfältig und vielstimmig, auch in der Flüchtlingsdebatte. Es sind die viel gescholtenen Medien, die ihre Diskussionsforen öffnen, in denen sich Verschwörungstheoretiker so wunderbar tummeln dürfen. Und Medien hinterfragen ihre eigene Rolle – in aller Öffentlichkeit. Sicher: Nicht alle Zeitungen waren Ruhmesblätter, viele Sendungen gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kamen mit Sendungsbewusstsein daher. Stets war von „Refugees“ oder „Flüchtlingen“ die Rede – kein hässlicher Kampfbegriff mehr wie der frühere „Asylant“, sondern ein gut gemeinter. Er vermengt Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben mit den Verfolgten des IS-Terrors. Wer aber vom Asylrecht redet, sollte diesen Unterschied nicht verschweigen.

Und dann die schiere Macht der Bilder! Warum starren von allen Seiten, auf allen Kanälen uns kleine Flüchtlingskinder mit großen Augen an, wo doch rund 80 Prozent der Flüchtlinge junge Männer sind? Warum siegt bei vielen Redakteuren plötzlich der innere Sozialarbeiter, wenn sie einen Kommentar zum Thema verfassen? Auf „Spiegel Online“ forderte der Kolumnist Georg Diez allen Ernstes, der Journalismus müsse „härter, aktivistischer, mutiger, ... entschlossener, leidenschaftlicher“ werden – klingt gut, bedeutet nur die Abschaffung des Journalismus. Bei der „Zeit Hamburg“ ist man längst weiter – hier verschmelzen Flüchtlingsaktivist und Berichterstatter in einer Person. Auch über die „Süddeutsche Zeitung“ muss man sich wundern: Die erklärt ihren Lesern in einem hübschen Video „Darum muss Deutschland keine Angst vor Flüchtlingen haben.“ Die Zahlen, so heißt es darin, „klängen bedrohlich. Vielleicht sollen sie das manchmal auch.“ Und dann wird vorgerechnet: In diesem Jahr kalkuliert die Regierung mit einer Million Anträge, aber auf 1000 Deutsche kämen nur drei Asylbewerber. Diese Zahlen klingen wenig bedrohlich – vielleicht sollen sie das auch? Rechnen wir mal nach. Drei Flüchtlinge auf 1000 Deutsche bedeuten rund 250.000 Asylbewerber. Ups. Wo ist die Million geblieben? Allein das wären dann doch schon zwölf Flüchtlinge pro 1000 Bundesbürger? Oder haben die Videomacher auf alte Zahlen gesetzt? Das Flüchtlingswerk UNHCR kam 2014 auf 455.000 Flüchtlinge in Deutschland – also 5,6 pro 1000 Einwohner. Wie aber heißt das Filmchen? „Flüchtlingsstrom, Flüchtlingswelle? Die Ankunft der Menschen wird als Bedrohung dargestellt. Einfache Zahlen zeigen, warum das nicht stimmt.“ „Bild“ überrascht mit der Feststellung über syrische Flüchtlinge, „rund 90 Prozent von ihnen haben eine Schulbildung, mindestens Grundschule (Bundesamt BAMF)“. Mindestens Grundschule? Mit derlei Kriterien kann Deutschland stolz verkünden: 100 Prozent seiner Schüler haben Schulbildung! So lassen sich alle Bildungspro­bleme auf einen Schlag lösen.

Inzwischen scheint in vielen Medien die Wirklichkeit einzusickern – es mehren sich reflektierende Stimmen, der Hurra-Journalismus verabschiedet sich. Zugleich aber drohen einige, ins Gegenteil zu verfallen: Plötzlich wird jede Prügelei in einer Massenunterkunft zum Topthema aufgeblasen, während dieselbe auf dem Oktoberfest niemanden interessiert, die beeindruckende Hilfsbereitschaft der Deutschen wird als „scheinheilig“ abqualifiziert; wo gestern noch Chancen waren, lauern nun nur noch Probleme. Dabei gilt in Flüchtlings- wie in allen anderen Lebenslagen: Die Wirklichkeit ist farbiger als jede Schwarz-Weiß-Sicht.