Der griechische Ministerpräsident hat Europa geeint – ohne es zu wollen

Es sind finstere Tage für Europa: Das Finanzministertreffen am Sonnabend endete im Chaos, die Partner überziehen sich mit Schuldzuweisungen. In Griechenland spielen sich Szenen ab, die in Europa fast vergessen waren: Vor Banken und Tankstellen bilden sich lange Schlangen, in einigen Supermärkten sind Nahrungsmittel ausverkauft. Und in Berlin üben Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD) Schulterschluss. Die über Jahre währende Krise um Griechenland steuert auf ihre Entscheidung zu. Und es ist nicht zynisch zu bemerken: endlich. Für die unendliche Griechenland-Krise gilt, was der deutsche Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg einst in sein Sudelbuch schrieb: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen: Es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“

Europa sieht inzwischen aus wie eine böse Karikatur: In den Staaten wächst der Nationalismus, Populisten pöbeln gegen die Idee der Einigung und gewinnen immer mehr Stimmen, nicht nur in Großbritannien oder Griechenland, längst auch in Kernstaaten wie Frankreich oder Dänemark. Die gemeinsame Idee von Europa ist passé, es regiert die Politik des „jeder gegen jeden“. Alte Regeln und Verträge gelten nicht mehr, sie werden bis zur Unkenntlichkeit gedehnt; die Spielregeln etwa zur Währungsunion sind Makulatur. Schlimmer noch: Große Teile der Öffentlichkeit haben sich an diesen dramatischen Verfall, ja diese Pervertierung des europäischen Gedankens gewöhnt. Es wurde nicht regiert, sondern laviert, die Politik trieb nicht mehr an, sondern war getrieben. Fast muss man dem griechischen Premier Alexis Tsipras dankbar sein, dass er Europa aus seiner Lethargie reißt. So deutlich hat man EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker selten erlebt, der von einem „entscheidenden Moment“ für Europa sprach und der griechischen Regierung Verrat vorwarf. Und Angela Merkel wiederholte ihren alten Satz, den sie zuletzt kaum noch äußern wollte: Scheitert der Euro, scheitert Europa.

Die griechische Regierung hat sich verzockt. Stets fühlte sie sich im Vorteil, weil Europa ein Ausscheiden Griechenlands mehr fürchtete, als das Athener Kabinett aus Links- und Rechtspopulisten es tat. Seit Sonnabend aber liegt der Ball wieder im Spielfeld der Griechen. Im Referendum am Sonntag entscheiden nicht Politdilettanten, sondern das Volk. Sie können den Populisten in der Regierung die rote Karte zeigen und damit dem überschuldeten Land eine neue Perspektive eröffnen. Oder sie folgen Tsipras und Varoufakis in den Abgrund.

Das Signal ist klar: Es zeigt, dass Populismus eben nicht zum Ziel führt und Europa mehr ist als ein Währungsraum; es ist eine Wertegemeinschaft, zu der auch – wie Kanzlerin Merkel formulierte – Grundsätze, Prinzipien und die Kunst des Kompromisses gehören. Der Kontinent kann durch diese Krise stärker werden: Tsipras’ Versuch, Europa zu spalten und die Schuldenstaaten gegen die Gläubigerländer in Position zu bringen, ist gescheitert. Er hat die EU sogar eher geeint. Seine dreiste Art der Verhandlungsführung und sein Zickzackkurs haben wohlmeinende Fürsprecher in Gegner verwandelt und die mitunter wohlklingende Rhetorik von Syriza als billigen Populismus entzaubert.

Der Euro kann ohne Griechenland leben, vermutlich nach ersten Turbulenzen sogar besser als mit Hellas. Griechenland hingegen geht ohne Euro schweren Zeiten entgegen. Im Interesse des Landes steht zu hoffen, dass die Mehrheit der Griechen dies erkennt und am Sonntag für die Reformpolitik stimmt. Wenn nicht, wird Europa sicher nicht scheitern.