Wahrscheinlicher ist, dass man ihre Särge übergeführt hat. Wer dem Volk aufs Maul schaut, folgt der Sprache – ganz ohne Bauplan
Kann man eine Sprache lenken? Das dürfte schwierig sein. Kein Volk, kein Papst, kein Kaiser, kein Herrscher und nicht einmal so eine Art frühhistorische Kultusministerkonferenz hat aus dem Lateinischen mit einem gezielten Bauplan das Italienische oder Französische und aus dem Germanischen das Deutsche oder Englische werden lassen.
Eine Sprache wird gesprochen. Sie verändert sich während der Jahrhunderte in Phonetik (Lautbildung), Flexion (Beugung) und Syntax (Satzbau), lässt sich aber nicht bewusst steuern. Wir müssen dem Volk aufs Maul schauen, und wir müssen das Gesprochene ab und zu in Regeln fassen, nämlich in die jeweils gerade gültige Grammatik (wenn ich das einmal sehr gewagt so ausdrücken darf). Walther von der Vogelweide sprach anders als Martin Luther und Luther anders als Goethe.
Jeder Versuch, Grammatikregeln zu oktroyieren oder gar eine länderübergreifende Kunstsprache wie das Esperanto zu konstruieren, landet über kurz oder lang auf der Rätselseite zwischen Sudoku und Tageshoroskop. Ein Leser, der meine Bemühungen in der letzten Woche mitbekommen hat, dem Saalmikrofon auf dem Kirchentag eine gendergerechte Saalmikrofonin zur Seite zu stellen, schlug vor, grundsätzlich einen geschlechtsneutralen Plural mit s-Endung zu schaffen, also die Einwohners statt der Einwohner und Einwohnerinnen, die Lesers statt der Leser und Leserinnen und vorsichtshalber auch gleich die Menschens, um die drohenden Menschen und Menschinnen abzuwehren. Er bat die Medien, seinen Vorschlag zu unterstützen. Lassen wir das jedoch lieber!
Dass das Deutsche vor allem etwas mit dem Volk zu tun hat, sagt schon die Wortbedeutung: deutsch lässt sich am treffendsten mit völkisch übersetzen. Da diese Bezeichnung jedoch vor 70 und mehr Jahren politisch missbraucht und sprachlich kontaminiert worden ist, sagen wir heute besser zum Volk gehörig. Die ahd. Form lautete theodisk, lat. theodiscus. Die ersten schriftlichen Zeugnisse unserer Muttersprache wurden als Zitate in die lateinischen Texte deutsch, als vom – ungebildeten – Volk stammend, eingefügt. Das engl. Dutch (Niederländisch), ital. tedesco und norw. tysk basieren auf demselben Wortstamm. Erst im späten 11. Jahrhundert wurde diutsch auf unser Land bezogen und um 1200 auch auf die Menschen, die in diesem Land wohnten.
Lässt sich also schwer steuern, wie ein Volk spricht, so wird immer wieder versucht, Einfluss darauf zu nehmen, was es sprechen – schlimmer noch –, was es nicht sprechen soll oder darf. Dabei handelt es sich um die unsägliche Political Correctness, bei der uns selbst ernannte Sprachpolizisten schlimmer belauern als Big Brother seinerzeit bei George Orwell. Es ist angeraten, vorsichtshalber Bezeichnungen wie Eskimo, Ausländer, Liliputaner, Hasenscharte oder Behinderte zu vermeiden. Eine Redaktion, der gar die Zeichenfolge „Zigeuner“ durchrutscht, und sei es auf der Speisekarte oder im Operettenprogramm, sollte schnellstens Polizeischutz anfordern.
Auf die Verödung der Semantik (Wortbedeutung) und Flexion wird dabei weniger geachtet. Bedeutete früher der Kurs die Richtung eines Schiffes, ein Kursus aber eine Lehrveranstaltung, so ist der Unterschied jetzt weitgehend verschwunden. Ähnliches gilt bei den homofonen (gleichlautenden) Verben überführen, die durchaus eine unterschiedliche Bedeutung haben oder hatten: 1. überführen, führte über, übergeführt (mithilfe eines Transportmittels von einem Ort an einen anderen bringen) bzw. 2. überführen, überführte, überführt (jemandem eine Schuld nachweisen). Früher wurde der Mörder der Tat überführt, sein Opfer jedoch in die Leichenhalle übergeführt. In der vergangenen Woche wurde in der deutschen Presse aber dreispaltig ein Opfer der Flugzeugkatastrophe nach dem anderen von Frankreich nach Deutschland „überführt“.
Ich gab auf und hisste die weiße Sprachflagge neben der Tastatur. Da hörte ich plötzlich, dass bei Susanne Daubner in der „Tagesschau“ die Opfer übergeführt worden waren. Ich lebte wieder auf. Es ist offenbar doch noch nicht alles verloren!
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