Wer die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) verstehen will, muss eine Wolke aus Propaganda wegpusten. Seit der selbst ernannte IS weite Regionen in Irak und Syrien erobert hat, bauen sich in Europa neben dem gesicherten Wissen über die Organisation eine Menge Mythen auf. Und genau diese Mythologisierung ist eines der strategischen Ziele der Führungspersonen der Terrorgruppe: Sie wollen schwer durchschaubar bleiben, nicht berechenbar. Sie sind brutal und wollen noch brutaler wirken. Und doch: Gleichzeitig operiert der IS taktisch und organisatorisch ähnlich wie ein totalitärer Staat – rational, zielgenau und mit klaren Kommandostrukturen von oben nach unten. Nach innen ist nicht die Religion Fundament des Handelns, sondern der effiziente Machtausbau. Genau das unterscheidet den IS von Terrorgruppen wie al-Qaida, die jede Terroraktion mit einem Schwall aus religiöser Ideologie begründen. Genau das aber macht den „Islamischen Staat“ auch so gefährlich.

Diese quasistaatliche Ratio ist jedenfalls eine der Erkenntnisse aus den wenigen internen Dokumenten des IS, an die Journalisten des „Spiegel“ und amerikanische Medien in den vergangenen Monaten gelangen konnten. Nur wenige Strategiepapiere über Aufbau und Organisation des IS dringen nach außen, wie jetzt durch die Razzia von US-Elitetruppen in Syrien.

Unser Bild vom IS ist geprägt von Chaos und Brutalität. Wir sehen Enthauptungen und Plünderungen. Wir sehen fanatisierte Jugendliche aus Hamburg oder Braunschweig, die in ihren „Heiligen Krieg“ ziehen – oftmals auf eigene Faust, ohne klare Ziele und Vorstellungen vom Leben im Krieg. Das ist die eine Seite des IS.

Die andere Seite ist ein Geheimdienststaat. Der IS rekrutierte einen Großteil seiner Funktionäre aus den Sicherheitsdiensten des alten Saddam-Regimes in Irak. Kader der Terrorgruppe spionieren heute gezielt Gemeinden aus, die sie erobern und kontrollieren wollen. Agenten des IS überwachen einflussreiche Familien, IS-Anhänger sollen sich sogar unbemerkt in Clans einheiraten. Auf diese Weise erkundet der IS Schwächen der Gegner. Das hat Kalkül – und wenig mit unberechenbaren islamistischen Fanatikern zu tun.